Mit wem sprechen wir in dieser Folge?
Dr. Ulrich Goldschmidt.
Aus welchem Bereich kommt unser.e Gesprächspartner.in?
Dr. Ulrich Goldschmidt ist ehemaliges Mitglied im Vorstand des Verbandes für Fach- und Führungskräfte (DFK) und mittlerweile in einer etwas anderen und selbst gewählten Rolle innerhalb des Verbandes tätig. Wir lernten uns über Twitter kennen und begannen auch, uns darüber auszutauschen. Dank ihm habe ich viele meiner kleinen, versteckten Vorurteile über solch einen Verband, beispielsweise dass er nicht den modernsten Führungsgedanken mit sich bringt oder sogar in der Zeit stehengeblieben ist, über Bord werfen dürfen. Durch Herrn Dr. Goldschmidt habe ich erleben dürfen, dass ein extrem modernes Führungsverständnis dahintersteckt. Nicht ohne Grund ist er u. a. als XING-Insider unterwegs und schreibt dort zum Thema Führung.
Wo haben wir mit ihm gesprochen?
In unseren Räumlichkeiten in Ratingen-Hösel.
Ich fange direkt an: wo kommen Sie gerade her?
Direkt von zu Hause, ohne Umweg über das Büro. Wobei mein Zuhause mittlerweile mein Büro ist, da ich überwiegend im Homeoffice arbeite. Das ergab sich, weil ich vor ein paar Wochen mein Vorstandsmandat niedergelegt habe und die Vereinbarung mit dem Aufsichtsrat lautet, dass ich zwar noch als „Senior Advisor“ an Bord bleibe, aber nur noch selten im Büro bin. Was den Vorteil hat, dass die Versuchung weniger groß ist, die Menschen, die jetzt die Verantwortung tragen, mit meinem guten Willen zu belästigen.
Bitte erzählen Sie unseren Zuhörer.innen etwas über sich selbst, zum Beispiel wie Sie dorthin kamen, wo Sie heute sind.
Ich bin Ulrich Goldschmidt und von der Ausbildung her Jurist. An dieser Stelle direkt ein Danke an alle Zuhörer.innen, die jetzt nicht sofort abschalten!
Jurist war nicht mein ursprünglicher Traumberuf. Ich wollte Geschichte studieren und Archäologe werden. Doch relativ schnell habe ich erkannt, dass man sich als Archäolog.in unter teilweise schlechten Rahmenbedingungen die Hände schmutzig machen muss. Da fiel für mich die Entscheidung auf Jura.
Ich habe es nie bereut und mache das wahnsinnig gerne. Von Anfang an war ich nah am Arbeitsrecht, vermutlich eine frühkindliche Prägung, da mein Vater Vertrauensmann bei der IG Metall bei der Hoesch AG in Dortmund war. Er brachte die ganzen Themen aus der Gewerkschaft, aus dem Betriebsrat, mit nach Hause, über die wir dann stellenweise sehr, sehr kontrovers diskutierten. Das hat mir schon sehr früh gezeigt, wie tief das Arbeitsrecht in das Leben, nicht nur des Mitarbeitenden, sondern der ganzen Familie, des ganzen Umfelds, eindringt, wenn sich beispielsweise Gewerkschaften und Arbeitgeber.innen mit Streit und Aussperrung behaken. Was das für eine Familie bedeutet. Das fand ich super spannend, auch wenn ich aus heutiger Sicht sagen muss, dass ich manche meiner kritischen Anmerkungen gegenüber meinem Vater heute nicht mehr so tätigen würde. Er war da doch schon in Sachen Lebenserfahrung deutlich weiter als ich, aber es war spannend, und so habe ich es auch nie aus den Augen verloren.
«Ich wollte nicht in der Theorie hängenbleiben.»
Ich bin nicht sofort ins Arbeitsrecht eingestiegen. Erst einmal habe ich als Repetitor gearbeitet und Studierende auf deren Examen vorbereitet. Dann kam die Frage, ob ich als Partner in das Repetitorium einsteigen würde, aber das wollte ich nicht. Ich wollte nicht in der Theorie hängenbleiben.
Ich sah mich also auf dem Arbeitsmarkt um, und durch eine Verkettung glücklicher Umstände hatte ich plötzlich zwei Angebote auf dem Tisch: zum einen war da ein Anwalt, der mich haben wollte, und es gab ein Angebot aus dem Verbändeumfeld. Nach drei Gesprächen mit dem Anwalt war mir recht klar, dass ich, sollte ich mit diesem Menschen auch nur sechs Monate zusammenarbeiten, ein Magengeschwür bekommen würde. Da half auch das finanziell interessante Angebot nicht. So entschied ich mich gegen das Geld und für das Gefühl, zumal es bei dem betreffenden Berufsverband auch um Arbeitsrecht ging. Ich stieg erst bei einer Servicegesellschaft des Verbandes ein, dann richtig im Verband, und so machte ich meinen Weg, mit allen Veränderungen, die es gab. Zwischendurch war ich Vorstand einer Vorsorgeeinrichtung für Führungskräfte, die aber auch an das Verbändeumfeld angekettet war. So bin ich bis heute den Verbänden, mit ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen, treu geblieben.
Jetzt, nach der Niederlegung meines Vorstandsmandates kann ich mich viel intensiver um Themen kümmern, für die ich früher nicht genügend Zeit hatte.
Zu welchem Zeitpunkt in Ihrem Leben tauchte das Thema „Führung, Begleitung und Arbeit mit Führungskräften“ auf?
Zunächst einmal war es einfach nur Arbeitsrecht. Ich war dort als Jurist und kümmerte mich um Arbeitsrecht. In dieser Zeit gab es plötzlich ein neues Gesetz, das „Sprecherausschussgesetz“. Der Sprecherausschuss ist die betriebliche Interessenvertretung der leitenden Angestellten. Das Gesetz war neu, ich war neu, und die Frage trat auf, wer sich darum kümmern solle. Ein Blick in die Runde und die Aufgabe landete bei mir. Das war der Anstoß für mich, in diese Führungsthemen zu gehen. Denn die Sprecherausschüsse kümmerten sich um die Interessenlage der leitenden Angestellten, aber nicht so sehr unter juristischen, arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten, sondern ganz häufig mit Fragen, wie ihre Position im Unternehmen oder wie die Führungskultur im Unternehmen sei. So bekam ich unglaublich viel zu Führungsthemen mit und begann, mich dafür zu begeistern.
Ich finde es besonders interessant, dass Ihr Vater Vertrauensmann bei der IG Metall war, also quasi auf der anderen Seite - als Vertretung für „normale“ Arbeitende und nicht für leitende Angestellte.
Ja, wobei ich nicht von DER anderen Seite, sondern von einer anderen Seite sprechen würde. Die Leitenden sind in einer Sonderstellung, denn sie sind Arbeitnehmende, nehmen jedoch gleichzeitig Arbeitgebendenfunktionen war. Für den Sprecherausschuss steht ganz klar die Arbeitnehmendenposition der leitenden Angestellten im Vordergrund, was die Sache extrem spannend macht. In der Regel arbeiten der Betriebsrat und der Sprecherausschuss in der Praxis sehr eng zusammen. Ich finde es sehr gut, sich wechselseitig zu informieren, zu befruchten, Themen gemeinsam zu verfolgen. Es ist kein Gegeneinander, sondern ein starkes Miteinander.
Jetzt, wo ich darüber spreche, wird mir bewusst, dass sich die Zusammenarbeit und das Gefühl von „Wir sind alle Arbeitnehmende“ im Laufe der Zeit verstärkt haben.
Als generelle Entwicklung oder als persönliche Wahrnehmung Ihrerseits?
Ich denke, das ist eine generelle Entwicklung. Es ist nicht mehr dieses „Wir hier oben, ihr da unten“. Stattdessen arbeiten alle zusammen und haben auch gemeinsame Interessen.
Interessant, wie Sie das beschreiben, denn genau in diesem Moment habe ich die Frage im Kopf, wie sich das Führungsverständnis über die Zeit verändert hat. Darin steckt auch das „Oben und unten“. Wie würden Sie die Veränderung beschreiben, wenn es um das Verständnis von Führung geht?
Es bewegt sich tatsächlich etwas. Wenn ich auf meine Anfangszeit zurückblicke, bis hin zu den späten Neunzigerjahren, hieß Führung: Befehl, Gehorsam, Kontrolle. Chef sagt, alle nehmen Haltung an, und dann wird ausgeführt. Das hat sich stark gewandelt, wandelt sich aber auch heute noch weiter. Die Führungskraft fliegt nicht wie Superman durch den Betrieb und schaut, wo es brennt und welche Probleme zu lösen sind, weil sie/er weiß, dass sie/er alles schon erlebt und alle Lösungen hat. Das wäre dann ein „Obersachbearbeitender“.
Das ändert sich ganz, ganz stark. Auch wenn es noch besser werden könnte. Heute ist da mehr die „dienende Führung“, die fragt, was sie für die Mitarbeitenden tun kann, damit diese exzellente Leistungen erbringen können. Wie können Mitarbeitende geschützt werden, und wo können Steine aus dem Weg geräumt werden, damit die Mitarbeitenden einzeln oder als Team einen guten Job machen.
«In dieser Rolle sorgt sie/er dafür, dass die Mannschaft richtig aufgestellt ist, das Team gut funktioniert, schickt sie mit der richtigen Strategie aufs Feld und versucht beim Training, alle besserzumachen. Das ist Führung.»
Ich vergleiche das mit einer/einem Fußballtrainer.in. Die gehen auch nicht auf den Platz und sagen: „Platz da, ich schieße jetzt den Elfmeter!“. In dieser Rolle sorgt sie/er dafür, dass die Mannschaft richtig aufgestellt ist, das Team gut funktioniert, schickt sie mit der richtigen Strategie aufs Feld und versucht beim Training, alle besserzumachen. Das ist Führung.
In diese Richtung geht es. Noch nicht überall, aber das wird.
Nach vielen Jahren der überzogenen Erwartungen empfinde ich diese Entwicklung weg vom Superman-Dasein für den Mensch Führungskraft als eine wirkliche Erleichterung.
Absolut. Das haben noch viele verinnerlicht. Gerade neulich las ich bei Christiane Brandes-Visbeck, dass ihr in einem Seminar jemand sagte, er frage sich, wer ihn noch ernst nähme, wenn er all seine Verantwortung delegieren und bei seinen Mitarbeitern platzieren und ihnen das Gefühl gäbe, sie könnten und wüssten alles. Das beschreibt das Kernproblem, das viele noch haben. Nämlich dass die neue Rolle als Führungskraft einem Bedeutungsverlust gleichkommt. Dabei ist dem nicht so, es ist einfach nur eine andere Art von Führung. Und eine große Erleichterung, nicht mehr so tun zu müssen, als habe man für alles die Lösung. Denn schließlich finden die Menschen das sowieso über kurz oder lang heraus.
Aus meiner Erfahrung heraus betrifft es beide Seiten. Die Führungskräfte haben Angst vor Bedeutungsverlust und den Eindruck, alles wissen zu müssen, gleichzeitig haben immer noch viele Mitarbeitende den Anspruch, dass die Führungskraft alles zu wissen hat. Das ist ein Dilemma.
«Mein positiver Gedanke war nicht angekommen.»
Wenn ich an meine Führungserfahrung zurückdenke, war das – aus meiner Sicht – eine der schwierigsten Situationen, in der ich als Führungskraft je gesteckt habe. Ich wurde damals Hauptgeschäftsführer und hatte plötzlich den ganzen Laden unter mir. Mein Vorgänger war ein toller Hauptgeschäftsführer, der sich sehr verdient um den Verband gemacht hatte, kam aber aus einer Führungskultur aus den 1970er-Jahren: „Hier entscheidet nur einer. Der Chef. Und das bin ich.“ Das hatten auch alle Mitarbeitenden verinnerlicht, und wenn etwas zu entscheiden war, ging man zum Chef. Ich, als Neuer in der Position, fragte mich, wie ich es machen sollte, dachte über Führung nach, las viel über Führung und Delegation und entschied mich dafür, die Mitarbeitenden, wenn sie zu mir kamen, zu fragen, ob sie schon eine Lösung hätten. Sollten sie keine Lösung haben, würde ich sie darum bitten, noch einmal darüber nachzudenken und dann mit einer Lösung zu kommen. Das hielt ich auch durch, aber ich bemerkte auch, wie die Stimmung immer schlechter wurde. Das verstand ich überhaupt nicht, denn ich dachte, dass sie alle überglücklich sein müssten, denn schließlich waren sie hochqualifiziert und durften selbst Entscheidungen treffen. Der Groschen bei mir fiel, als die Putzkraft bei mir im Büro stand und sagte: „Herr Goldschmidt, ich möchte ein neues Putzmittel ausprobieren. Können Sie das bitte entscheiden.“ Ich war völlig verdattert, denn Putzmittel gehörten nicht zu meiner Kernkompetenz. „Das müssen Sie doch viel besser wissen“, sagte ich und erhielt als Antwort, dass mein Vorgänger das immer entschieden hätte. Da wurde mir langsam klar, wo das Problem liegt. Die Mitarbeitenden hatten das Gefühl, dass der alte Chef immer alles entschieden hatte und ich sie nun hängen ließ. Mein positiver Gedanke dabei war nicht angekommen.
Für einige war die alte Situation sehr komfortabel gewesen, denn sie mussten nicht nachdenken und erhielten direkt eine Lösung. Doch jetzt sollten sie selbst nachdenken, entscheiden und Verantwortung übernehmen. Das war ihnen völlig fremd und hat lange gedauert, bis der Schalter umgelegt war. Ich habe dann von vorn begonnen, habe Einzelgespräche geführt und mich erklärt. Es gab aber auch danach immer wieder Rückfälle in alte Muster, trotz hochqualifizierter Mitarbeitender, die Entscheidungen so viel besser hätten treffen können als ich. Ich hätte nur geraten.
Heute ist es deutlich besser geworden, aber Rückschläge gibt es dennoch immer mal wieder. Aber es ist wohl nur menschlich, dass sich jemand manchmal scheut, eine Entscheidung zu treffen und die Verantwortung dafür zu tragen.
Jetzt sind Sie in der Rolle des Senior Advisors …
Ja, ich bin nicht mehr Vorstand, sondern eigentlich ein normaler Mitarbeiter des Verbandes als Senior Advisor und teile mir meine Arbeit selbst zu.
Rückblickend auf Ihre ehemalige Rolle im Vorstand: wie hätten Ihre Mitarbeitenden Sie als Führungskraft beschrieben?
Als ich meinen Mitarbeitenden gesagt habe, dass ich das Vorstandsmandat niederlege, war das ein sehr berührender Moment. Einige meiner Mitarbeiter.innen hatten Tränen in den Augen. Das, was sich ganz häufig wiederholte, waren zwei Sätze: „Sie waren als Chef immer fair.“ und „Wenn irgendetwas schwierig wurde, haben Sie sich immer schützend vor die Mitarbeiter.innen gestellt.“ Wow. Ein schöneres Abschiedsgeschenk hätte man mir nicht machen können, als mir das zu sagen.
Sie haben bereits beschrieben, was Sie denken, wohin die Entwicklung im Bereich Führung geht. Wie würden Sie Ihr eigenes Verständnis von Führung und wie Sie Führung gelebt haben beschreiben?
«Der Umstand, dass etwas anders gemacht wird, heißt ja nicht, dass es falsch ist.»
Ich wollte nie der Obersachbearbeiter sein, sondern habe von Anfang an versucht, die Entscheidungskompetenzen dorthin zu verlagern, wo das Wissen und die Erfahrung sind. Das war immer ein Kern meines Führungsverständnisses: zu delegieren, die Menschen dann aber auch in Ruhe zu lassen und nicht alle fünf Minuten über ihre Schulter zu schauen und Ratschläge zu geben. Wenn dann Entscheidungen getroffen wurden, die ich eventuell anders getroffen hätte, war es an mir diese Entscheidung zu akzeptieren. Es sei denn natürlich, es wäre in eine komplett falsche Richtung gegangen, dann hätte ich eingegriffen. Der Umstand, dass etwas anders gemacht wird, heißt ja nicht, dass es falsch ist. Und ich hatte aufgrund der Kompetenz der Entscheidenden das Vertrauen, dass die Entscheidung eine gute sein würde. Das ist für mich prägend im Führungsverständnis, diese dienende Führung, die hilft und unterstützt. Gerade im Verband ist es speziell so, sich schützend vor die Mitarbeitenden zu stellen. Wenn ein Verbandsmitglied mit etwas unsicher ist, sollen die „Steine“ in meine Richtung gehen, nicht in die Richtung meiner Mitarbeitenden. Niemand macht absichtlich Fehler, und es gibt Gründe für diese Fehler. Eventuell habe ich die Kompetenz falsch eingeschätzt, dann war das mein Fehler, und ich hätte die Aufgabe dort nicht ansiedeln können. Vielleicht hat ein.e Mitarbeiter.in aus Zeitgründen etwas nicht hinbekommen, dann hätte ich auch das erkennen müssen. An mir ist es dann, mich vor diese Person zu stellen, denn ich habe die Organisation so aufgestellt, und dass das nicht geklappt hat, liegt an der Organisation, die ich zu verantworten habe.
Also ist es die Verantwortung der Führungskraft, Rahmenbedingungen und Strukturen zu schaffen, in denen die Mitarbeitenden erfolgreich sein können und gleichzeitig die Verantwortung zu übernehmen, sollten ebendiese Strukturen und Rahmenbedingungen einen Erfolg verhindern.
Ja. Auch hier passt das Bild des/der Fußballtrainer.in wieder. Wenn ich meine Mannschaft zwar mit einer Top-Strategie aufs Spielfeld schicke, wir aber beim Thema Fitness nichts gemacht haben und sie nach 45 Minuten mit hängender Zunge auf dem Platz stehen, ist das meine Verantwortung als Trainer. Gleichzeitig muss ich Orientierung geben, damit sie auf dem Spielfeld Entscheidungen treffen können. Ihnen erklären, warum alle in diese Richtung laufen und auch ein Stück weit, ein Vorbild zu sein. Das darf man nicht zu hoch hängen, aber sich schon überlegen und bewusst sein, wie man mit bestimmten Situationen umgeht.
Ich denke da immer an meinen früheren Chef. Da konnte rechts und links die Welt untergehen, und er stand in der Mitte, war unglaublich ruhig und traf Entscheidungen. Das fand ich absolut bewundernswert und war für mich auch Ziel, es ebenso zu halten. Manchmal muss es so sein, denn natürlich gucken alle in Richtung Chef.in, schauen, ob das Problem wirklich so ernst ist und ob sie/er verzweifelt ist oder alles in der Hand hat. Dann muss man zeigen, dass man es in der Hand hat. Nach dem Motto „Ja, die Situation ist schwierig, aber das Schiff wird deshalb nicht untergehen. Durch den Sturm kommen wir zusammen doch locker.“
Eine Verhältnismäßigkeit herstellen.
Genau.
Wer oder was hat Sie in Ihrem Verständnis für Führung geprägt?
«Wenn mir etwas gefällt, versuche ich, es anzunehmen, doch es muss zur eigenen Persönlichkeit passen.»
Das ist schwierig zu beantworten. Ich glaube, ich habe mir bei ganz vielen immer ein bisschen abgeguckt. Außerdem bin ich ein Mensch, der wahnsinnig viel liest, und so habe ich nach Büchern Ausschau gehalten, in denen es um Führung ging. Dazu gehörten zu Beginn zahlreiche Bücher und heute sind es die von Simon Sinek, die ich ganz großartig finde. Dennoch sollte man alle Bücher kritisch lesen, denn ich muss nicht alles glauben. Wenn mir etwas gefällt, versuche ich, es anzunehmen, doch es muss zur eigenen Persönlichkeit passen. Wenn ich eine Führungskraft bin, die gerne im Büro sitzt und dort auch durchaus mit Mitarbeiter.innen kommuniziert, ich aber nicht unbedingt der charismatische Typ und die Wiedergeburt von Steve Jobs und seiner Bühnenpräsenz bin, kann ich drei Bücher lesen, in denen es um die Förderung von Charisma geht, und es wird sich nichts tun. Dann merkt jede.r sofort, dass ich das nicht bin. Deshalb ist es wichtig, seinen eigenen Weg zu finden. Wenn man aber mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, findet man immer etwas, das weiterhilft.
Schon zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn hatte ich mit Sprecherausschüssen und ihren hochkarätigen leitenden Angestellten, mit denen ich plötzlich am Tisch saß, zu tun. Darunter waren teilweise Mitglieder in Aufsichtsräten. Da gab es schon Persönlichkeiten, deren Auftreten und Verhalten mich beeindruckte und von denen ich etwas mitnehmen konnte. Das ist das Schöne an der Verbandsarbeit: man hat ein unglaublich interessantes Spektrum an interessanten Menschen aus Unternehmen, aus der Politik, aus anderen Organisationen, aus der Wissenschaft, die man kennenlernt. Da finden sich immer Anregungen.
Ich hatte mal die Gelegenheit länger mit Anselm Bilgri zu sprechen. Wir unterhielten uns darüber, sich selbst auch mal zurückzunehmen und maßzuhalten, das fand ich sehr beeindruckend und habe sehr viel mitgenommen.
Was fiel Ihnen eher leicht bzw. schwer, eben weil Sie Sie sind?
«Mikromanager sind Führungsdementoren.
Sie saugen den Mitarbeitenden die Lust an der Arbeit aus.»
Mir fällt es leicht, Verantwortung abzugeben und Mitarbeiter.innen machenzulassen. Ich bin definitiv kein Mikromanager. Die sind für mich mit das Schlimmste, was einem im Arbeitsleben passieren kann. Da kriege ich allergische Reaktionen. Grauenvoll.
Sie kennen sicherlich die Harry-Potter-Bücher, in denen diese gruseligen Gestalten, die Dementoren, vorkommen. Die können eines besonders gut: den Menschen die Seele aussaugen. Mikromanager sind Führungsdementoren. Sie saugen den Mitarbeitenden die Lust an der Arbeit aus.
Das ist eine sehr schöne, greifbare Beschreibung.
So wollte ich nie werden. Ich glaube, dass mir das tatsächlich gelungen ist. Ich gebe den Mitarbeiter.innen das Vertrauen, dass sie ihre Sache können und gut machen. Ansonsten versuche ich, mit den Mitarbeitenden fair umzugehen. Was ich so an Feedback erhalte, scheint das auch zu klappen. Ich sage immer: geht mit Menschen so um, wie ihr wollt, dass mit euch umgegangen wird. Das ist ein ganz einfaches Korrektiv, wenn man sich in die Situation versetzt, auf der anderen Seite des Tisches zu sitzen. Das zu den Sachen, die mir leichtfallen.
Rückblickend würde ich sagen, dass ich beim Thema Kommunikation noch besser hätte werden können. Es ist ein Teil meiner Persönlichkeitsstruktur, dass ich denke, dass wir ausreichend über etwas gesprochen haben, dass ich viel darüber nachgedacht habe und das Thema so offenkundig auf dem Tisch liegt, dass ich da nichts mehr erklären muss. Doch ich habe unterschätzt, dass es zwar für mich offenkundig ist, aber nicht zwangsläufig für andere. So kam von Mitarbeitenden durchaus das Feedback, dass ich mehr erklären müsse, weil sie etwas schlichtweg nicht verstanden hatten. Da hätte ich sicherlich mehr machen können. Hinzu kommt, dass es in einem Verband unterschiedliche Kommunikationsebenen gibt. Ich kommuniziere mit den Mitarbeiter.innen, mit ehrenamtlichen Mitgliedern und mit den „normalen“ Verbandsmitgliedern. Auf diesen Ebenen gibt es unterschiedliche Empfängerhorizonte und Erwartungshaltungen, die eine unterschiedliche Ansprache erfordern. Einem Mitarbeitenden muss ich beispielsweise deutlich weniger über die Abläufe im Verband erklären. Würde ich dieses Kapitel jedoch bei einem ehrenamtlich Mitarbeitenden überspringen, könnte diese Person nicht nachvollziehen, warum wir bestimmte Entscheidungen so treffen wollen oder getroffen haben. Da ist ein anderer Erkläraufwand nötig. Und ein Verbandsmitglied interessiert es überhaupt nicht, was wie organisiert wird, solange die Leistungen stimmen. Das macht die Sache schwierig und zeitaufwendig. Nachdem ich den Eindruck gehabt hatte, mit allen über alles ausreichend diskutiert zu haben und bereit zum Umsetzen war, lernte ich, dass das wohl für einige doch noch zu schnell gewesen war.
Letztendlich ist Führung nichts anderes als Kommunikation, denn ich kann nicht führen, ohne mit meinem Umfeld in irgendeiner Form in Interaktion zu treten. Gleichzeitig fällt es durch den Zeitdruck oft hinten runter. Es ist eine stetige Abwägung zwischen Handeln und Kommunizieren.
«Eine Führungskraft, die nicht entscheidet, ist keine Führungskraft.»
Zur Führung gehört nach meinem Verständnis aber auch, irgendwann zu sagen, dass das Ende der Diskussion erreicht ist. Und wenn es so ist, weil nur ich es jetzt so will. Wenn man das nicht macht, kommt irgendwann die Situation, dass sich die Wahrnehmung von „Der entscheidet zu schnell“ hin zu „Der entscheidet gar nicht“ dreht. Das ist genauso tödlich, denn eine Führungskraft, die nicht entscheidet, ist keine Führungskraft.
Sie sind neben Ihren beruflichen Herausforderungen auch XING-Insider und beschäftigen sich auf ganz vielen Ebenen mit dem Thema Führung. Was ist Ihr Ausblick, wie wird das Führungsverständnis in zehn Jahren sein?
«Selbst wenn das jetzt nach Science-Fiction klingt, glaube ich, dass Arbeitgeber.innen in Zukunft Arbeitsangebote machen werden, aus denen die Mitarbeitenden auswählen.»
Meine Vermutung geht ganz stark dahin, dass wir 1. noch mehr den Aspekt der dienenden Führung betonen werden und wir 2. Hierarchien nicht komplett werden auflösen können, aber wir mehr in Netzwerkstrukturen arbeiten werden. Wir werden Wissens- und Informationssilos aufbrechen, und es wird eine stärkere Vernetzung in Unternehmen und darüber hinaus geben. All dies müssen Führungskräfte moderieren.
Als Verband haben wir im letzten Jahr eine Studie gemacht. Die Ergebnisse waren teilweise wirklich überraschend, denn schon heute sagen über 60 Prozent der befragten Führungskräfte, dass Netzwerke nach und nach Hierarchien ablösen werden. Ich finde es faszinierend, dass dies Menschen sagen, die heute in genau diesen hierarchischen Strukturen arbeiten und dort Verantwortung tragen.
Und selbst wenn das jetzt nach Science-Fiction klingt, glaube ich, dass Arbeitgeber.innen in Zukunft eher Arbeitsangebote machen werden, aus denen die Mitarbeitenden auswählen, als dass Aufgaben verteilt werden. Solche Ansätze gibt es bereits. Dann ist es die Aufgabe der Führungskraft, dafür zu sorgen, dass alle anstehenden Arbeiten erledigt werden. Das ist auch ein Einwand, der immer direkt kommt: „Aber wenn wir es so machen, suchen die sich ja nur die schönen Arbeiten raus, und der Mist bleibt liegen.“ Ich schlage dann vor, doch als erstes einmal zu überlegen, warum eine Aufgabe „Mist“ ist und ob sie vielleicht anders zugeschnitten werden muss, damit die Mitarbeitenden sie nicht mehr als negativ wahrnehmen. Es ist an mir als Führungskraft, Lösungen zu finden.
Ich denke, es wird deutlich anspruchsvoller werden. Weg von Befehl, Gehorsam, Kontrolle, hin zu Strukturieren, Moderieren, Orientierung geben, noch mehr kommunizieren und immer ein Auge darauf haben, ob das Team noch richtig zusammengestellt ist, ob das Team durch etwas behindert wird oder ob das Team bzw. die Mitarbeitenden zu schützen sind.
Insbesondere der Aspekt der Arbeitsangebote ist interessant und dass Mitarbeitende sich nur die Sahnestückchen raussuchen würden. Das ist ja auch eine Frage, wie Menschen ticken. Nicht zwangsläufig werden sie sich nur die Aufgaben heraussuchen, die ihnen Spaß machen, sondern sie erkennen, dass es auch Arbeiten gibt, die weniger Spaß machen, aber einen Sinn haben.
Das Thema Sinn bzw. „purpose“ bekommt noch mal zusätzlich Schwung, weil jetzt viele junge Menschen auf den Arbeitsmarkt kommen, die eine unglaubliche Marktmacht haben. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir im nächsten oder übernächsten Jahr eine Rezession bekommen. Diese Rezession wird nach meiner Einschätzung nicht dazu führen, dass wir eine Schwemme von Arbeitslosen bekommen, sondern die Lücke bei den Facharbeiter.innen wird wahrscheinlich kleiner. Das ändert jedoch nichts an der Marktkraft von hochqualifizierten Fach- und Führungskräften.
Ich finde es immer ganz faszinierend, wenn ich mich mit Personaler.innen unterhalte, die mir dann ihre Erlebnisse berichten. Neulich wurde mir erzählt, dass sich jemand beworben hatte, tolle Papierform, den das Unternehmen auch gerne eingestellt hätte, aber dann sagte diese Person im Vorstellungsgespräch: „Nur zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich darauf hinweisen, dass ich Mittwochnachmittags nicht an Meetings teilnehmen kann, da ich zu dieser Zeit beim Sport bin.“
«Vielleicht haben diese jungen Menschen eine viel klügere Lebenseinstellung als wir.»
Damit muss man als Unternehmen lernen, umzugehen. Vielleicht haben diese jungen Menschen eine viel klügere Lebenseinstellung als wir, die nicht davon ausgehen, dass man unter 50 oder 60 Stunden pro Woche die Aufgaben einer Führungskraft ausführen kann.
Doch. Geht. Geht wunderbar.
Lachen.
Wir müssen mehr darauf eingehen, was die Mitarbeitenden erwarten und wollen. Darauf müssen sich Unternehmen einstellen.
Wir nähern uns langsam dem Ende des Podcasts, deshalb die Frage: was habe ich Sie noch nicht zum Thema Führung gefragt, was Sie aber gerne erzählen würden?
«Was aus meiner Sicht vernachlässigt wird, ist die Frage, was danach kommt.»
Spannende Frage. Da fällt mir spontan etwas ein, wahrscheinlich aus dem Erleben meiner eigenen, neuen Rolle heraus, aber auch aus dem, was ich an jahrelanger Erfahrung in der Beratung von Führungskräften hatte. Wir reden in den Unternehmen ganz viel über Coaching, aber immer in Form eines Karriere-Coachings, sprich wie komme ich die Karriereleiter hoch und bleibe möglichst lange dort oben. Was aus meiner Sicht vernachlässigt wird, ist die Frage, was danach kommt. Viele bräuchten ein Ausstiegscoaching. Das ist eine Erfahrung, die ich über viele Jahre gemacht habe, dass da plötzlich in der Beratung eine gestandene Führungskraft vor Ihnen sitzt, von der Sie denken „Wow, was für eine Persönlichkeit! Die schmeißt im Leben nichts um.“ Doch dann tritt diese Person in den Vorruhestand ein, und ein Prozess beginnt, den ich mittlerweile als „innere Verwahrlosung“ bezeichne. Es ist zu merken, dass dieser Mensch den Bedeutungsverlust nicht verkraftet und er nichts mit sich anzufangen weiß. Wenn ein Mensch also mit den Fragen zu mir kommt, ob er Altersteilzeit machen oder in den Vorruhestand gehen soll oder wie lange er überhaupt noch arbeiten will, habe ich mir angewöhnt, ihm drei Fragen zu stellen. Die erste Frage lautet: Wie sieht es wirtschaftlich aus? Das können alle bis auf den Centbetrag beantworten. Gesetzliche Rente, Betriebsrente, Lebensversicherung … Da wissen sie genau, was am Ende rumkommt.
Bei der zweiten Frage wird es dann schon ein wenig dünn: Haben Sie das Thema denn auch zu Hause schon einmal angesprochen? Dann kommt oft: „Ja, ich habe mal angedeutet, dass da was im Raum stehen könnte, aber nicht weiter diskutiert.“ Ich rate dem Menschen dann, nach Hause zu gehen, das zu besprechen, zu klären und zu hören, ob die/der Lebenspartner.in diesem Ereignis mit genauso großer Vorfreude entgegensieht. Ich behaupte an dieser Stelle, dass viele Menschen Loriots „Pappa ante portas“ nicht als Komödie verstehen, sondern den Film für einen Dokumentarfilm über ihr eigenes Leben halten. Viele verkennen das Problem, dass die Führungskraft plötzlich den ganzen Tag zu Hause ist und versucht, ihre geballte Managementerfahrung in den Haushalt einzubringen. Worauf die Familie seit 30 Jahren gewartet hat …
Bei der dritten Frage sieht es dann meistens wirklich übel aus: Was wollen Sie mit sich selbst anstellen, wenn Sie zu Hause sind? Da wird dann vom großen Garten gesprochen, aber irgendwann sind alle Rosenbüsche beschnitten, und was dann? „Dann muss ich mal schauen, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Sie verstehen nicht, dass sie, obwohl sie in ihrem Berufsleben 200 oder 250 Projekte geleitet haben, ihr eigenes Leben, ihr Ausstieg aus dem Beruf, auch ein solches Projekt ist, für das sie einen Plan benötigen. Denn ansonsten sitzen sie irgendwann zu Hause, wissen nichts mit sich anzufangen und gehen anderen Menschen auf die Nerven. Man kann diesen geistigen Verfall sehen, wenn man diese Menschen nach einigen Jahren wiedertrifft. Früher konnte man sich toll mit ihnen über Themen unterhalten, heute ist die Person völlig interessenlos, fast geistig gelähmt. Viele werden dann auch krank. Das wird unterschätzt. Unternehmen könnten an dieser Stelle viel Gutes tun, einige tun es auch tatsächlich, wenn sie rechtzeitig solch ein Ausstiegscoaching anbieten würden. Um den Leute deutlich zu machen, dass das ein wichtiges Thema für sie ist, um das sie sich kümmern müssen.
Aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Know-hows sind ehemalige Führungskräfte hervorragend im ehrenamtlichen Bereich einsetzbar. So viele Organisationen wären dankbar für diese Unterstützung.
In mir hallt gerade Ihr Satz „Vielleicht sind die jüngeren Menschen klüger, was ihr Herangehen an die Führungsrolle sowie Arbeit und Leben im Allgemeinen“ angeht, weil sie so vielleicht von Anfang an alles sinnvoll miteinander verbinden und somit nicht in diese späte „innere Verwahrlosung“ geraten.
Ja, weil man erkannt hat, dass es eine Gefahr sein könnte, wenn man sich als Persönlichkeit nur über die Funktion im Job definiert. Das wäre ein ganz trauriges Beispiel, denn ein Mensch bringt ja wesentlich mehr mit als seinen Job und die gute Arbeit, die er dort abliefert.
Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses echt spannende Gespräch!
Vielen Dank, es hat mir viel Spaß gemacht.
Wer das Gespräch nachhören möchte, kann dies hier tun https://soundcloud.com/user-675701835/episode-06 oder hier https://open.spotify.com/episode/4q9wstaUxyJwt0XXEtuzZf?si=WZ-NIZyjQNOLnnJtTr01RA
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