Mit wem sprechen wir in dieser Folge?
Sebastian Kolberg.
Aus welchem Bereich kommt unser.e Gesprächspartner.in?
Wir durchbrechen unseren Monatsrhythmus mit einer bzw. für eine Sonderfolge.
In Folge 15 sprechen wir mit Sebastian Kolberg. Es handelt sich allerdings nicht um eine klassische Interviewfolge, so wie ihr sie sonst von uns kennt. Am besten lässt es sich so beschreiben, dass ihr Jo und Sebastian dabei zuhören könnt, wie sie gemeinsam die letzten Monate reflektieren.
Sebastian Kohlberg ist hauptberuflich bei Bayer und beschäftigt sich mit digitaler Transformation und Change-Projekten im Bereich HR Solutions. Nebenberuflich ein lernenden Veränderer, immer sehr neugierig, offen und reflektiert. Er sammelt Erfahrungen, sortiert und zieht für sich Learnings daraus. Umso mehr habe ich mich gefreut, als er mit dem Gedanken auf mich zukam, dass wir uns im Podcast unterhalten. In dieser Folge wird es um die Learnings zu Leadership aus den letzten Monaten in der Pandemie gehen. Aus all dem ist kein klassisches Interview entstanden. Am besten lässt es sich wohl so beschreiben, dass ihr uns dabei zuhören könnt, wie wir gemeinsam die letzten Monate reflektieren.
Außerdem geht es um:
- Wahlfreiheiten
- Problemlösungen
- Zusammenarbeit
- Management und Leadership
- Viele Learnings und Erkenntnisse auf ganz unterschiedlichen Ebenen
- Und es geht es um die wertvolle Frage „Hast du alles, was du brauchst?“
Schön, dass du da bist, Sebastian. Ich freue mich, dass du heute da bist. Wobei „da bist“ falsch formuliert ist. Wo befindest du dich gerade?
Im Homeoffice. Natürlich.
Wo ist dein Homeoffice?
Ich lebe in der Nähe von Köln, was natürlich mit meinem Arbeitgeber in Leverkusen zusammenhängt. Ich habe es nicht wirklich gezählt, aber ich bin schon über 100 Tage im „physical distancing“. Es geht uns gut.
Dieses Physical distancing ist ein Auslöser für unser heutiges Gespräch gewesen. Was steckt da zum Thema Learnings rund um Leadership drin, was haben wir aus den letzten Monaten mitgenommen?
Doch bevor wir einsteigen, erzähl doch mal bitte, wer du bist und was du machst.
Sebastian Kolberg … wer bin ich? Ich bin ein begeisterter Mensch, Dinge zu verändern und Dinge zu lernen. Ich glaube, das Thema Learning treibt mich schon eine ganze Weile. Ich habe jahrelang als internationaler Berater gearbeitet, bin viel in der Welt gereist, was auch eine interessante Reflektion ist. Wie viel ich früher gereist bin und wie wenig jetzt. Dann bin ich zu Bayer als Global Head of Learning und Training gegangen, habe dort mit einem genialen Team Leadership Development Bayer Academy aufgebaut und ganz viel funktionales Lernen. Die letzten zwei, drei Jahre bin ich im Bereich Digitale Transformation und Change unterwegs, jetzt gerade auch im Bereich Anwendung von Technologien/AI-Technologie, wobei das eigentlich auch Change ist. Wir sprechen immer über Daten, datengetriebene Entscheidungen, Insides generieren, aber am Ende ist das eigentlich auch ein Veränderungsthema. Die Technologie, wenn sie einmal läuft, ist, glaube ich, nicht so sehr das Problem. Die Frage ist ja, was wollen wir erreichen, welches Problem wollen wir lösen?
Auch bin ich ein glücklicher Familienvater mit einer großen Begeisterung für die Bayer-Vision und einem ganz tollen Team.
Diese Rolle, die du bei Bayer hast, spielt bestimmt mit rein, wie für dich die letzten Monate waren und welche Erkenntnisse darin stecken. Gleiches gilt für den Familienvater, was in der letzten Zeit auch eine Herausforderung gewesen ist. Aber bevor wir darüber sprechen: wie würdest du deinen Arbeitsalltag vor Corona beschreiben?
Wie war mein Arbeitsalltag vor Corona? Ich habe schon viele, viele Jahre virtuell gearbeitet. Im internationalen Kontext sind das Arbeiten mit virtuellen Tools und eine virtuelle Zusammenarbeit schon normal gewesen. Ich bin ein großer Befürworter von Homeoffice für jede/n, die/der das wollte und brauchte, gewesen. In gewissen Situationen macht das auch sehr viel Sinn, und das habe ich immer unterstützt. Für mich selbst habe ich es jedoch nie in Anspruch genommen, weil ich gerne ins Büro gegangen bin, weil ich gerne Menschen gesehen habe. Das hieß dann im Zweifel auch, in einem Büro oder Meetingraum zu sitzen und sich trotzdem den ganzen Tag in Calls im internationalen Umfeld einzuwählen. Homeoffice gab es für mich aber nicht, weil ich eine ganz klare Trennung zwischen „Jetzt bin ich auf der Arbeit, gerne auch mal eine Stunde länger“ und „Wenn ich zu Hause bin, bin ich zu Hause“ haben wollte. Dann ist Familienzeit. Von daher war das Thema Homeoffice für mich immer präsent und unterstützenswert, aber ich habe es für mich nie in Anspruch genommen.
Bevor wir heute hier zusammensitzen, haben wir uns darüber ausgetauscht, dass du gesagt hast, das Thema Learning und was da in den letzten Monaten so drin steckt, treibe dich um. Was hat es mit Leadership und Change zu tun? Woher kam es, dass dich das so umgetrieben hat?
«Alle sprechen über das neue Normal und wie es aussehen soll, aber wir haben nur die alte Welt und die Phase der letzten vier Monate.»
Ich stelle immer wieder fest, dass wir in der Vergangenheit, und da kann ich für Bayer und auch für viele andere Beobachtungen, die ich gemacht habe, sprechen, den Glauben hatten, dass physische Anwesenheit und Kontrolle, was damit verbunden ist, notwendig sind. Der eine oder die andere in verschiedenen Bereichen hat mal damit „experimentiert“, denn Homeoffice war ja nicht normal. Doch von jetzt auf gleich war es für alle normal. Und dann stellen wir fest, dass das funktioniert. Gerade bei Bayer wird es auch gewertschätzt, und wir stellen fest, dass wir nicht in das alte Normal zurückwollen. Trotzdem ist es ein Lernprozess. Ich hatte gerade die Reflexion, wo mich jemand fragte, was wäre wenn. Ich habe gesagt: Eigentlich bin ich nicht im Homeoffice gewesen, sondern bis jetzt war es so, dass ich aus zweierlei Gründen zu Hause bleiben musste. Zum einen aufgrund von Physical distancing und Sicherheit, zum anderen wegen fehlender Kinderbetreuung.
Das heißt, ich musste zu Hause bleiben und von dort arbeiten. Das ist aber etwas anderes als Homeoffice.
Wie die Zukunft aussehen soll, kann ich noch nicht sagen, weil ich noch nicht die Situation habe, in der es so normal ist, dass ich wieder die Entscheidungsfreiheit habe, ob ich ins Büro gehe oder von zu Hause arbeite. Ich glaube, dass dieser Lernprozess jetzt erst beginnt. Alle sprechen über das neue Normal und wie es aussehen soll, aber wir haben nur die alte Welt und die Phase der letzten vier Monate. Doch die neue Hybridlösung haben wir weder ausprobiert, noch gab es eine Möglichkeit, sie auszuprobieren. Ich denke, dass das eine riesige Lernchance ist.
Das stimmt. Und ich denke gerade, dass der große Unterschied in den letzten Monaten war, dass es nicht selbst gewählt und keine Antwort auf ein selbstempfundenes Problem war. Es ist bis heute keine selbstgewählte und selbstentwickelte Lösung, die eine Antwort darauf ist, wie wir, bei uns, im Bereich, dauerhaft gut zusammenarbeiten können. Stattdessen ist es die Antwort darauf, wie wir Sicherheit für unsere Mitarbeitenden herstellen können und wie wir es jenen, die es anders nicht sortiert bekommen (Kinderbetreuung, Pflege, Risikogruppen), das Arbeiten ermöglichen. Daher hast du es mit dem Satz „Wir sind noch nicht in dem neuen Normal“ gut auf den Punkt gebracht.
Ich möchte noch ergänzen, dass ich die letzten Jahre lange unterwegs war und mich mit der Frage, wie wir zusammenarbeiten wollen, beschäftigt habe. Alle sprechen über New work, agile Arbeitsmethoden und Nutzung von Technologie, MS-Teams und all diese Themen. Ich habe immer gedacht, dass das Technologie ist, Arbeitsmethodik. Die ist gut oder schlecht, je nachdem, welches Problem wir lösen wollen. Deshalb sollten wir immer mit der Frage starten, wie wir eigentlich zusammenarbeiten wollen.
«Jede/r wird gesehen, jede/r wird gehört, keine/r geht verloren.»
Das Tagesgeschäft lief ja vorher gut. Es hat ja funktioniert. Insofern sind viele über diese Hürde und die Frage „Wie wollen wir eigentlich zusammenarbeiten?“, sich die Zeit dafür zu nehmen und es auszuprobieren, nicht gesprungen. Zu Recht. Weil es auch wirklich nicht die Notwendigkeit gab. Trotzdem fand ich die Frage wichtig. Und jetzt MUSSTEN wir uns diese Frage stellen und sind immer noch dabei uns zu fragen, wie es weitergehen wird. Wir haben ganz, ganz viel gelernt. Ein schönes Beispiel sind Meetings. Jede/r von uns kennt das: Drei, vier Leute sitzen in einem Meetingraum. Man arbeitet international. Das bedeutet, dass drei, vier andere virtuell zugeschaltet sind, doch die kriegen nicht so wirklich mit, was im Raum geschieht. Durch den Zwang in die virtuelle Kollaboration sind wir plötzlich auf Augenhöhe, weil wir alle eingewählt sind, weil wir uns alle angewöhnt haben, die Kameras einzuschalten, und wir uns anschauen können. Ich habe das Gefühl, dass dadurch diese Meetings viel mehr „inclusive“ sind. Jede/r wird gesehen, jede/r wird gehört, keine/r geht verloren.
Es gibt ja dieses schöne Video, in dem die Tür immer auf- und zugeht und gar nicht festzustellen ist, wer sich wirklich im Raum befindet. Ich glaube, das ist jetzt anders, beantwortet aber noch nicht die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten wollen. Beziehungsweise habe ich für mich im Moment das Gefühl, dass gerade solche Meetings, bei denen nicht alle im Raum sind, besser sind, wenn wir sie komplett virtuell, inklusiv, machen. Was wir dann aber noch weiter lernen müssen, und dabei machen wir gute Schritte, ist, wie wir Barcamp-Formate oder Whiteboards nutzen können. Wie nutzen wir nicht nur die Videokonferenztechnologie, sondern wie ersetzen wir Flipcharts, Metaplanwände usw.? Das ist noch ein weiterer Lernprozess, aber genau das ist der Schritt bei „Wie will ich eigentlich arbeiten?“, mit dem sich alle beschäftigen müssen.
Das finde ich total spannend!
Wie würdest du dein Verständnis von Leadership beschreiben?
«Wir hatten die Kontrolle auch vorher nicht.»
Hm. Also ich glaube, dass wir in der Vergangenheit sehr stark Leadership und Management miteinander kombiniert haben. Das ist eine Rolle. Es gibt nicht nur Manager, es gibt nicht nur Leader. Das gehört zusammen. Aber gerade in diesem Managementthema steckt sehr viel Kontrolle drin. Jemand, der im Büro mit seinem Team zusammensitzt, hat zumindest das Gefühl, sie/er hätte Kontrolle. Weil sie/er sieht, dass die Leute da sind und arbeiten. Jetzt stellen wir plötzlich fest, und ich stelle das auch als Familienvater fest, dass der Tag nicht so ist, dass ich acht Stunden am Stück arbeite, sondern ich kann nur zwei, drei Stunden arbeiten, dann muss ich mich um die Kinder kümmern oder muss Mittagessen machen. Das heißt, dass wir viel flexibler sind, das heißt aber auch, dass die Leute nicht online sind. Wer glaubt, dass Leute immer nur arbeiten, wenn sie online sind, das ist eine andere Frage. Insofern ist die gefühlte Kontrolle plötzlich weg. Wir beschreiben das als Kontrollverlust, es ist aber in Wirklichkeit kein Kontrollverlust. Wir hatten die Kontrolle auch vorher nicht. Deswegen glaube ich, dass für mich Leadership heißt, mit Menschen zu sprechen, ihnen dabei zu helfen, sich zu entwickeln, Ergebnisse zu erzielen, Rahmenbedingungen zu schaffen. Ich glaube aber, dass dieses Managementthema sehr stark mit Vertrauen und Empowerment zu tun hat. Den Mitarbeitenden, den Kolleg.innen auch die Verantwortung zu übertragen, sich und ihre Projekte zu managen und dass wir trotzdem auf einer Metaebene in der Diskussion bleiben müssen, was das eigentlich heißt.
Hast du für dich das Gefühl, dass sich dein Verständnis von Leadership in den letzten vier Monaten verändert hat?
Ich glaube, dass es mir noch mal gezeigt hat, wie wichtig es ist, zum Beispiel Fragen zu stellen oder einzelne, kurze Gespräche zu führen. Im Büro stellt man ja vielleicht morgens die Frage „Wie geht’s dir? Hast du alles, was du zum Arbeiten brauchst?“ Das ist auch durchaus eine ernstgemeinte Frage, doch die Antwort ist häufig dieselbe. „Ja, es geht mir gut, ich habe alles, was ich zum Arbeiten brauche.“ Aber jetzt ist die Situation anders. Wenn man jetzt fragt „Wie geht es dir?“ kommen sehr viele persönliche Themen hoch. Am Anfang hieß es Social distancing, und obwohl es um Physical distancing geht, ist da etwas Wahres dran. Es führt dazu, dass Menschen auch sozial distanziert sind. Es ist eine ganz spannende Frage als Führungskraft, aus der Leadership-Perspektive, zu fragen: „Wie gehst du damit um?“ und darüber zu sprechen. Wie kannst du trotz Physical distancing soziale Kontakte pflegen, die darüber hinausgehen, in virtuellen Telefonkonferenzen Arbeitsthemen zu besprechen, sondern abends auch zusammen ein Bier zu trinken oder morgens gemeinsam mit einem Kaffee in den Tag zu starten? Sich menschlich nahe zu sein. Das muss nicht immer nur auf der Arbeit sein. Es ist halt nur die Frage, ob das genutzt wird. Jede/r hat da andere Ansätze. Diese Metaebenenreflexion untereinander zu „Wie geht es dir?“ ist eine ganz andere und auch die Frage „Hast du eigentlich alles, was du brauchst?“. Dann sagt jemand: „Eigentlich ja, aber es wäre gut, wenn ich einen zweiten Bildschirm hätte.“ Ja, natürlich. Der steht im Office, das musst du nur organisieren. Aber früher gab es das nicht, du hast ja nichts mitgenommen. Jetzt hast du ein Dokument, auf das du schreibst, wohin der Bildschirm geht und das alles sauber ist, aber hast du eigentlich alles, was du brauchst??? Ich war da manchmal ganz erstaunt, und gleichzeitig stelle ich tatsächlich den Kontrollverlust fest. Im Sinne, dass ich gar nicht weiß, was alles ist. Sonst gehst du durchs Büro, triffst dich mit den Kolleg.innen, sprichst mal eben schnell hier fünf Minuten, da fünf Minuten, man kriegt es einfach mit. Das gibt’s nicht, das ist auch nicht zu ersetzen. Es geht schlichtweg nicht. Insofern erlebe ich, dass der Managementteil runtergeht, aber der Leadershipanteil viel, viel wichtiger ist.
Das stimmt. Ich habe ein paar Jahre in Frankreich arbeiten dürfen. Dort gibt es sogar eine Bezeichnung dafür: prendre la temperature, also Temperaturmessen. Damit meint die/der Chef.in dieses Rumlaufen am Morgen, Händeschütteln, sprechen. Das geht über das „Wie geht’s dir?“ hinaus, und man fängt an, inhaltliche Dinge zu besprechen. Als ich in Frankreich war, habe ich das aus meiner total effizienzgetrimmten, deutschen Perspektive als völlige Zeitverschwendung wahrgenommen. Ich habe immer gedacht: unfassbar, der ist jetzt seit anderthalb Stunden damit beschäftigt, über den Flur zu laufen und die Leute vom Arbeiten abzuhalten. Das war so meine Wahrnehmung. Über die Zeit habe ich aber gemerkt, wie viel da drinsteckt. In Gesprächen mit vielen Führungskräften habe ich jetzt festgestellt, dass das etwas ist, wo viele durch die Physical distancing-Phase gemerkt haben, was fehlt, wenn man sich nicht sieht und angefangen haben, bewusste Rituale zu schaffen, in denen man genau das tun kann. Diese Rituale nehmen heute im virtuellen Raum mehr Zeit ein als sie es jemals vorher getan haben. Wie du gesagt hast: das morgendliche Kaffeetrinken, um überhaupt ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Leute gerade umtreibt, um vielleicht auch mitzubekommen, dass jemand gerade Stress mit der Kinderbetreuung hat und auch dafür zu sorgen, dass man Verständnis zeigt, auch wenn man das Problem nicht lösen kann. Abends gibt es dann einen kurzen Call, alle zusammen, bevor es in den Feierabend geht. Dieses Bewusstsein für diese Ebene von Führung ist, glaube ich, bei vielen dadurch entstanden, dass die Normalität und das Selbstverständliche nicht mehr da waren. Wie es oft so ist: dass etwas wichtig ist, merkt man immer erst, wenn es weg ist. Ich war wirklich extrem überrascht, wie viel diese Aufgabe von ganz vielen Führungskräften von Anfang an, angenommen wurde. „Oh Gott, wir müssen das sicherstellen!“ Ich hätte befürchtet, dass dies an vielen Stellen auf der Strecke bleiben würde.
«Und spannenderweise kennen wir jetzt die Kinder von all den anderen, und alle kennen meine.»
Gemeinsam den Tag zu starten und gemeinsam den Tag zu beenden, ist ein Rahmen, den du als Leader setzen kannst und gleichzeitig nicht die Erwartungshaltung haben, dass alle da sind. Weil du Kinder zu Hause hast, die gerade die Aufmerksamkeit brauchen. Relativ am Anfang der Zeit habe ich eine ganz spannende Erfahrung gemacht, als jemand sagte: „Ich muss mal kurz auf Mute gehen, tut mir leid, ich entschuldige mich … mein Sohn …“. Und dann springt dieser auf den Schoß, die Person geht natürlich nicht auf Mute, es ist laut, dann folgen weitere Entschuldigungen. Nee, das ist das allerletzte Mal, dass sich hier irgendwer entschuldigt hat. Das ist ab jetzt normal, und es geht uns allen so! In dem Meeting zu sagen „Entschuldigung, ich muss mal kurz raus, ich muss mich um die Kinder kümmern.“ ist wirklich normal geworden. Es ist akzeptiert. Und spannenderweise kennen wir jetzt die Kinder von all den anderen, und alle kennen meine. Die Kinder haben, glaube ich, auch unheimlich viel Spaß gehabt, auf dem Schoß zu sitzen und zuzugucken. Es hat sich eine Beziehung entwickelt, in der wir viel achtsamer miteinander umgehen und die einzelnen Bedürfnisse respektieren, auch was den Feierabend angeht. Wenn ich nachmittags Kinderbetreuung mache und abends den Laptop noch mal anmache, hieß es früher, ich mache Überstunden oder arbeite so viel. Jetzt haben wir Diskussionen im Sinne von: wie arbeitest du eigentlich? Wann bist du verfügbar, wann nicht? Block dir den Kalender! Und es ist alles völlig in Ordnung. Es ist aber auch sehr wichtig, darüber zu sprechen, um gemeinsam zu klären, wie es funktioniert, also dieses synchron/asynchron Arbeiten. Wie ging es dir denn eigentlich damit?
Total herausfordernd. Jetzt bin ich ja dadurch, dass ich extern bin, in vielen Konstellationen, in denen ich mit Leuten kommuniziere, in einer Dienstleisterinnenrolle, und am Anfang habe ich mich schwer damit getan, meine Kinder mit ins Bild zu lassen. Ich dachte, das sei total unprofessionell. Wir wirkt das denn nach außen? Bis ich genau die Erfahrung auch gemacht habe, dass es bei der/dem Kund.in genauso und nicht anders ist. Ich bin Dienstleisterin, sie/er ist Kund.in, hat aber mit der gleichen Herausforderung zu kämpfen. Da habe ich echt eine Lockerheit entwickelt, das hat aber ein bisschen gedauert. In der Zwischenzeit bin ich sehr, sehr entspannt damit, weil sich aber auch vieles eingespielt hat. Sowohl auf der Seite der Kinder, als auch bei mir. Aber am Anfang habe ich mich wirklich damit schwergetan, weil ich immer noch den Gedanken im Kopf hatte, dass das hier jetzt nichts zu suchen hat. Das darf jetzt nicht sein. Obwohl es ja erst einmal in der Gesamtsituation natürlich sein durfte und auch die grundsätzliche Frage im Raum steht, warum das bitte sonst nicht sein darf. Nur weil wir uns im beruflichen Kontext finden, heißt es ja nicht, dass ich ausblenden muss, dass ich eine Familie habe und dass die manchmal eben auch noch irgendwie eine Rolle in meinem Hintergrund spielt.
Du hast vorhin gesagt, dass dieser Aspekt, den wir immer noch ganz stark bei Führung sehen und erleben, dieser Fokus aufs Management und damit der Fokus auf Kontrolle ist. Jetzt habe ich oft in Gesprächen erlebt, dass es ja schön und gut ist, dass wir zurzeit auf diese „Befindlichkeiten“ Rücksicht nehmen, die Leute aber gleichzeitig nicht mehr zum Arbeiten kommen. Und das ist das Problem. Wie hast du das wahrgenommen?
«Ich glaube, dass Menschen, die diese Flexibilität und dieses Vertrauen erleben, die Freiheit zu haben, sich so zu organisieren, tatsächlich noch engagierter sind.»
Ich tue mich da schwer und bin vielleicht etwas provokant schwarz-weiß. Wer vorher nicht motiviert war und nicht arbeiten wollte, hat auch vorher nicht gearbeitet bzw. nicht das volle Potenzial ausgeschöpft. Ich glaube, dass fast alle Mitarbeitenden natürlich auch gut arbeiten, aber wer das vorher als „nur“ Arbeit verstanden hat, hat auch „nur“ gearbeitet. Wer die Passion hatte, das „noch mehr“ zu machen, die Extrameile zu gehen, hat das vorher auch schon getan. Wenn es jetzt nicht möglich ist, weil die Rahmenbedingungen es nicht hergeben … ich erinnere ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin, die zwei kleine Kinder von zwei und vier Jahren hat, mit einem Mann in einem systemrelevanten Beruf, jeden Tag Vollzeit auf der Arbeit. Da brauchen wir keine Diskussion darüber führen, warum jemand nicht die volle Leistung oder Arbeitszeit bringen kann. Die einzige Diskussion, die wir brauchen ist: Was brauchst du und was kannst du schaffen?
Auf dem Level überlegen wir dann, wie das aussehen kann. Ich kann es ja nicht beeinflussen, keine Kinderbetreuung sicherstellen. Was ich machen kann, ist zu sagen: Nimm dir mal einen oder zwei Tage Auszeit, und guck mal, dass du das organisierst. Oder wir sagen: Ist ja in Ordnung, dann fragen wir im Team, wer dich noch unterstützen kann, wenn du gerade nicht Vollzeit arbeiten kannst.
Unser Arbeitgeber ist da grandios und hat uns dafür auch volle Flexibilität gegeben. Ich glaube, dass Menschen, die diese Flexibilität und dieses Vertrauen erleben, die Freiheit zu haben, sich so zu organisieren, tatsächlich noch engagierter sind. Weil sie in der Zeit, in der sie zum Arbeiten kommen, wirklich fokussiert Dinge erledigen und Wert schaffen.
«Ich kann deine Welt nicht perfekt machen, aber ich kann dafür sorgen, dass ich nicht mit dem, was ich erwarte und wie ich als Führungskraft handle, ein Faktor bin, der dich demotiviert.»
Das glaube ich auch. Das geht in die Richtung des Grundgedankens, dass ich Menschen nicht motivieren kann, aber ich kann dafür sorgen, dass ich sie nicht demotiviere. In dem Moment, wo ich etwas verlange und etwas erwarte, das schlichtweg nicht leistbar ist, also ein unerreichbares Ziel setze, ist das ein Faktor, der unfassbar demotiviert. Ich werde vor ein Ziel gestellt, das ich nicht erreichen kann. Das, was du beschreibst, ist genau dieses „Ich kann deine Welt nicht perfekt machen, aber ich kann dafür sorgen, dass ich nicht mit dem, was ich erwarte und wie ich als Führungskraft handle, ein Faktor bin, der dich demotiviert. Ich kann dafür sorgen, dir Demotivation, so gut es geht, aus dem Weg zu räumen. Mehr kann ich vielleicht nicht tun, aber genau dies kann ich tun!“
Im privaten Umfeld habe ich erlebt, dass vor fast zwei Monaten Arbeitgeber.innen mit – so wurde es mir gesagt – der Ansage kamen, dass es ab sofort mit dem Homeoffice vorbei sei und alle wieder ins Büro kommen sollten. Zu einem Zeitpunkt, zu dem weder Kindergärten noch Schulen auf hatten. Das heißt, bei dem Verständnis, dass wieder physische Nähe geschaffen werden soll, weil das auch bei der Arbeit hilft, werden die Menschen innerhalb einer Organisation vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Das ist etwas, von dem ich glaube, dass es nachhaltig ein Vertrauensverhältnis zerstört und nachhaltig in der Führung und der Wahrnehmung meiner Führungskraft gegenüber hängenbleibt. Wenn das das ist, was mit mir gemacht wird …
Ich glaube, da haben viele für sich ein individuelles Erleben gehabt, das sehr, sehr ernüchternd und desillusionierend war.
«In diesen vier Tagen habe ich mindestens genauso effizient gearbeitet, wenn nicht sogar mehr.»
Ja. Und ich glaube, dass es auch Unternehmen gibt, bei denen die Technologie nicht so gut ist wie bei uns und wo die Art der Arbeit das nicht ermöglicht. Ich kann diesen Zwang zum Arbeitsplatz zu gehen in einigen Bereichen durchaus nachvollziehen, aber wenn es eben nicht notwendig ist und ich die Technologie habe, dann muss ich mir andere Gedanken machen, wie ich damit umgehe. Ganz ehrlich: es ist ja anstrengend. Einige sagen, sie sind total gestresst. Auch das kann ich total nachvollziehen. Ich für mich selbst beschreibe das als anstrengend. Und ich muss natürlich, und das müssen vermutlich alle von uns, die auch Kinder haben oder pflegen, für uns definieren, wie wir dieses Thema „Privat und Arbeit“ anders balancieren, und vor allem, wie wir uns Zeit für die Familie nehmen können. Früher sind wir unterwegs gewesen, haben mit Kolleg.innen, Freund.innen im Restaurant gesessen, das ist zwar jetzt eingeschränkt wieder möglich, war es aber eine ganze Weile nicht. Das heißt, dass der Energiepol die Familie ist. Wenn ich dann auch Zeit mit der Familie verbringe, gibt mir das die Balance, die Ruhe dann auch wieder die Energie zu haben, noch fokussierter zu arbeiten. Es ist viele Jahre her, da hatte ich Elternzeit genommen und hatte danach noch wahnsinnig viel Resturlaub. Ich habe es dann so geplant, dass ich eine Vier-Tage-Woche mache. Jeden Freitag, über drei Monate hinweg, mache ich frei. In diesen vier Tagen habe ich mindestens genauso effizient gearbeitet, wenn nicht sogar mehr. Wobei es nicht um die Stunden, sondern um den Output geht. Ich habe wahrscheinlich sogar mehr als in den fünf Tagen geschafft, weil vier Tage fokussiert waren, ich aber auch drei Tage Erholungsphase hatte. Wenn ich aufgrund der Situation mehr Zeit mit meiner Familie verbringen kann und das eine glückliche Zeit ist, sind es vielleicht manchmal nicht die acht oder zehn Stunden, sondern es sind weniger, aber ich erlebe häufig, dass das Arbeitsergebnis trotzdem dasselbe ist. Das ist sicherlich nicht für jede/n so, es gibt ganz unterschiedliche Herausforderungen, aber ich erlebe das für mich.
Was hast du denn für dich in den letzten Monaten erlebt, worin für dich persönlich unter dem Oberbegriff „Leadership“ Erkenntnisse oder Reminder an Dinge, die verschüttet waren, drinsteckten?
Ich habe eine ganz faszinierende Erfahrung mit diesem Home schooling gemacht. Wir hatten das Glück, dass es bei uns an der weiterführenden Schule bereits Office360 und MS Teams gab. Das wurde natürlich nicht wirklich genutzt, weil es keine wirkliche Notwendigkeit gab, solange es physischen Unterricht und Hausaufgaben gab. Von einem Tag auf den anderen ging das nicht mehr. Ich habe mich dann engagiert, mit den Lehrkräften geübt und ihnen gezeigt, wie man noch besser arbeiten kann, beispielsweise mit MS Teams Education. Ich beobachtete das und stellte irgendwann fest, dass die Kinder ja keinen Stundenplan mehr haben. Da sind zwölf Fächer oder zwölf Lehrer.innen, und die schicken einfach die Aufgaben, und das Kind muss sich selbst organisieren. In der Diskussion mit einem Lehrer kam die Frage, was wir uns als Eltern wünschen, wie das noch verbessert werden kann. Und da stelle ich vor allem zwei Sachen fest: das eine war mein initialer Gedanke, dass die Kinder gerade keine Struktur kriegen, was schlecht ist und die Frage, ob die Lehrer.innen nicht einen virtuellen Stundenplan erstellen und den Kindern Guidance geben können. Das haben die jedoch nicht gemacht, weil sie es nicht koordiniert kriegten. Stattdessen hat meine Tochter angefangen, sich ein Kanban Board zu machen. Das nennt sie nicht so, es ist nur eine Tafel. Aber sie hat sich kleine Zettelchen gemacht, hat darauf die Aufgaben geschrieben, was sie glaubt, wie lange das dauert und was sie an welchem Tag machen möchte. Sie hat eine Mischung zwischen Kanban Board und Stundenplan gemacht. So hat sie sich komplett selbst organisiert, und sie hat angefangen, wenn sie nicht weiterkam und die Lehrkraft nicht verfügbar war, über MS Teams ihre Klassenkameradinnen anzurufen, um gemeinsam an diesen Aufgaben zu arbeiten und zu lernen.
Das heißt, dass die Kinder durch diese fehlende Struktur Selbstorganisation, Fokussierung, virtuelle Kollaboration, Eigenmotivation, Bedürfnisorientiertheit und ich mache das, wozu ich im Moment gerade Lust habe, gelernt haben. Also genau das, was wir im Arbeitsleben brauchen. Das fand ich spannend. Im Bezug auf Leadership heißt es für mich dasselbe. Wie viel Struktur gebe ich eigentlich? Muss ich diese Struktur tatsächlich geben, oder ist es nicht wichtiger, eine Metaebenen-Reflexion zu machen, bei der wir miteinander darüber sprechen, wir wir uns organisieren, wie unterschiedlich wir uns organisieren und welche Inspiration ich kriege, weil ich dem anderen zuhöre und plötzlich feststelle, was für eine tolle Idee sie/er hat und dass ich das genauso machen kann? Diesen Prozess fand ich unglaublich faszinierend.
Das ist wirklich ein Beispiel dafür, dass der Raum schon da ist und dann auch wirklich gefüllt wird. Ich habe vielleicht nicht die Klarheit darüber oder die Vorgabe, wie ich es tun soll, ich habe nur das „Ziel“ genannt bekommen, nämlich was innerhalb dieser Woche passieren muss. Der Rest ist meine Verantwortung und dadurch auch meine Entscheidung und meine Möglichkeit, es so zu organisieren, wie es für mich oder für mich und meine Kolleg.innen funktioniert. Dieses „Wir verabreden uns um 15 Uhr, weil wir alle mit etwas ein Problem haben und alle damit weiterkommen müssen.“ Dieses Abstimmen miteinander, wie können wir gemeinsam arbeiten, ist eine spannende Beobachtung, weil ja tatsächlich, gefühlt, das klassische Schulsystem das so eigentlich nicht vorsieht. Diese Freiheit und diese Unstrukturiertheit.
Wenn wir auf Social Media mitlesen, gibt es viele Eltern, die sich sehr stark beschwert haben, weil die Schulen zum Beispiel keine Technologie hatten. Wo dann einmal pro Woche irgendwelche Papierausdrucke per Post gekommen sind oder man zur Schule fahren und sie sich mit Abstand und Maske dort abholen musste. Und dann auch die Frage, wie ich eigentlich die Kinder erreiche. Ich glaube, dass trifft dann auf die Schule ganz grundsätzlich zu. Ich wünsche mir da auch und erhoffe mir, dass man daran arbeitet und große Fortschritte macht, aber wir können ja genaugenommen das, was wir physisch machen, gar nicht 1 zu 1 in den virtuellen Raum übertragen. Und wenn wir glauben, statt physischen Meetings und physischen Workshops das genauso virtuell zu machen, kann das gar nicht funktionieren. Das gilt für Unterricht genauso wie für unsere Arbeit. Deswegen ist es nicht mehr die Frage, wie ich mit MS Teams eine Videokonferenz mache und das Whiteboard als Tafel oder Flipchart nutze, sondern welches Ziel wir erreichen wollen, wie wir das hinbekommen und welche Methodik, die dann eben anders als bis dato aussieht, wir dafür nutzen können. Und dann kommt agile Arbeitsmethodik, ein To-do-Planer von Microsoft ins Spiel, virtuelle Kanban Boards, die für Transparenz sorgen, aber natürlich ganz anders sind als die Art und Weise, wie wir zuvor gearbeitet haben. Diese Reflexion ist etwas, wo ich jeden Tag lerne. Ich glaube, es gibt noch keine wirkliche Antwort, was man tun muss, sondern es ist bei jeder Sache wieder die Frage, wie wir das erreichen können, aber immer mit dem Wissen in Klammern, dass wir es nicht 1 zu 1 übertragen können.
Du hast ja den strategischen Vorteil gehabt, dass du schon vor Corona in einer Rolle warst, die sich sehr intensiv mit Digitalisierung, Tools und dem Thema, wie wir Digitalisierung, also dieses Changethema, umsetzen, beschäftigt hast. Damit, wir haben Microsoft Teams genannt, kanntest du dich aus, das war für dich nicht neu. Nicht so wie für viele andere. Aber selbst in dem Kontext, was war für dich vielleicht noch etwas, wo du gesagt hast, dass du darüber früher anders nachgedacht hast, obwohl du es eigentlich alles kanntest?
Das sind, glaube ich, zwei Sachen. Das eine ist, mit meiner eigenen Ungeduld umgehen zu können. In der Reflexion stelle ich fest, dass ich seit über zwei Jahren fast ausschließlich virtuell arbeite. Es ist technisch relativ einfach. Um sich mal Skillset, Toolset, Mindset anzugucken: Das Toolset ist da, super, Haken hinter, geniale Leistung der IT, funktioniert. Skillset: unheimlich schnell vermittelbar. In anderthalb, zwei Stunden zeigen wir die Funktionalität. Und trotzdem habe ich ja selbst zwei Jahre gebraucht, um anders zu arbeiten. Und ich brauche das immer noch. Es ist ja nicht so, dass ich mit meiner Lernreise fertig bin. Jetzt stelle ich fest, dass da Leute sind, die das noch nie gemacht haben, die das noch nie gebraucht haben.
Dann kommt der zweite Aspekt rein: Communities. Netzwerke. Wie wichtig es ist, dass sich Communities bilden und gemeinsam bessere Lösungen finden, weil man voneinander lernt. Das kann auf Yammer Enterprise Social Network eine Community sein, zum Thema Digital Workspace, wo alle sich plötzlich austauschen und sagen: Ich habe hier das Problem und wie geht denn Barcamp, wie machen wir Barcamps in MS Teams, wo es ja eigentlich keine Breakout rooms gibt …
Das ist in der Community erarbeitet worden. Aber es ist nicht nur in einer Community, die unternehmensübergreifend und von Markus Rohde getrieben war, entwickelt worden, sondern wir haben das ja alle in unsere Unternehmen mitgenommen und waren da als Multiplikatoren. Wir hatten da Communities, mit denen wir das machen, und wenn wir sie nicht hatten, fangen wir an, sie zu gründen. Deswegen ist mein Lernprozess vor allem der, dass du nicht alles wissen musst und kannst, aber wie wichtig es ist, außerhalb des eigenen Teams/der eigenen Abteilung, Menschen mit all diesen unterschiedlichen Perspektiven und dem unterschiedlichen Wissen zusammenzubringen und davon tatsächlich zu profitieren. Ich mache immer diese schöne Wette. Du möchtest irgendetwas tun, einen virtuellen Workshop machen, aber du hast keine Ahnung, wie du das gestalten möchtest. Du kennst das Ziel, du kennst die Teilnehmenden, hast ungefähr einen Zeitrahmen, aber wie willst du es machen? Dann poste es doch ins Enterprise Social Network. Die Wahrscheinlichkeit, dass du innerhalb einer Stunde, jemanden hast, die/der entweder sagt: Hier ist ein Konzept, habe ich schon so gemacht, kannste anpassen oder sagt: Ruf mich an, lass uns mal ne halbe Stunde darüber sprechen und dir dann erzählt, wie sie/er es gemacht hat, ist unglaublich hoch. Das ist nach wie vor ein riesiger Lernprozess, wie gerade in diesem virtuellen, physical distancing mode gelernt und auch Wert geschaffen werden kann.
Wie kann ich das denn von der Leadershipseite unterstützen? Was ist deine Erfahrung, dass genau das stattfindet, dass die Leute loslaufen, sich eine Community suchen? Nicht alle haben Enterprise Social Networks, aber Communities und Informationen findet man ja auf unterschiedlichstem Wege.
«Ausprobieren, ermutigen, vorleben.»
Das Erste ist, im Zweifel, selber vorleben, selber machen. Ich glaube, das hat einen riesigen Effekt. Wenn ich selbst aktiv bin, wenn ich selbst Fragen stelle, ich habe das in einem anderen Kontext schon gesagt: über diese Hürde zu springen, dass ich public poste, dass ich keine Ahnung habe. Oder anders gesagt: ich habe ja nur um Hilfe gebeten, aber was ankommt ist, dass er keine Ahnung hat. Das ist eine große Hürde. Wenn ich das als Führungskraft selber mache, ist das schon mal super hilfreich.
Das Zweite ist, Türen zu öffnen. Wenn ein.e Mitarbeiter.in mit einem Problem kommt, zu sagen: Ganz ehrlich, weiß ich auch nicht, aber hast du mal da geguckt, da gibt es doch eine Community, poste das da doch mal rein und dann teile es zurück in das Team. Ausprobieren, ermutigen, vorleben.
Ich glaube auch, sich Hilfe zu suchen. Wenn ich als Führungskraft darin nicht so gut bin und ich das vielleicht auch gar nicht kenne, heißt das ja nicht, dass es nicht andere gibt, die das schon können. Warum frage ich dann nicht jemand anderes, ob sie/er nicht mal zu uns ins Team kommen und zeigen kann, wie sie in dieser Community zusammenarbeiten. Erklär und zeig uns doch mal, was der Mehrwert ist, hast du konkrete use cases?
Und Zeit nehmen. Zeitnehmen ist wichtig. Raum dafür schaffen.
Da wir ja beide auf Twitter aktiv sind, fallen mir sofort so viele Menschen ein, die selbst gar nicht in einer Führungsrolle sind und in ihrem Unternehmen vielleicht auch gar nicht die Struktur haben, in der es Communities gibt oder eine interne Möglichkeit, nach Rat zu fragen. Die nutzen aktiv Twitter oder LinkedIn dafür, Fragen zu stellen, sich mit Leuten zu vernetzen, mit Leuten auszutauschen, mal spontan für einen Zoom-Call zu verabreden, um sich über ein Thema auszutauschen. Für mich persönlich ist das auch etwas, das ich unter Leadership verstehe. Und zwar völlig unabhängig davon, ob ich in einer Führungsrolle bin oder nicht. Und es einfach zu tun. Ich glaube, es gibt so viele Führungskräfte, die gar nicht wissen, wie viele ihrer Leute ganz aktiv immer die Antennen ausfahren, um sich das an Wissen und Learning zu holen, was sie vielleicht aufgrund der Unternehmensstruktur nicht finden können. Das ist in meiner Wahrnehmung in den letzten Monaten mehr geworden, weil natürlich die Kommunikation über Social Media einen ganz anderen Stellenwert bekommt, wenn ich nicht raus darf und meine Kolleg.innen nicht jeden Tag sehe. Ich erhoffe mir, dass sich das weiterentwickelt, auch wenn wieder jede.r in ihrem/seinen Büro sein und mit ihren/seinen engen Kolleg.innen zusammenarbeiten sollte. Dieses „Ich gucke auch mal links und rechts, wo ich mir Wissen, Austauschpartner.innen, Inspiration holen kann“ geht hoffentlich weiter.
Ich wollte dich nicht unterbrechen, aber grad beim ersten Satz hast du schon gesagt, dass es so viele Menschen gibt, die nicht Führungskräfte sind, aber das Schöne ist ja, dass es so viele Menschen gibt, die führen. Es ist nicht positionsabhängig. Na klar, im Rahmen von Prozessen und hierarchischen Entscheidungsstrukturen ist es durchaus notwendig, gewisse Leadership-Positionen zu haben, aber führen kann jede/r.
Noch zwei Gedanken. Katharina Nolden, Followerempfehlung, arbeitet im Gesundheitswesen, im Krankenhaus, hat auch Working Out Loud ausprobiert, es gibt kein ESN, wie machst du das, wir haben ganz viel diskutiert, naja, es gibt ja ein schwarzes Brett. Papier ausdrucken, aufhängen. Auch ohne ISN geht das.
«Ich lerne eigentlich am meisten von den Fragen, die nicht ich, sondern jemand anderes gestellt hat.»
Das Zweite ist – und da hast du absolut recht – wenn ich aber im Homeoffice bin, hilft mir das Schwarze Brett nicht mehr. Das Schöne ist aber, wenn ich diese Frage stelle und die Antworten als Blog zusammenfasse, lerne ich. Und alle anderen lernen mit. Das ist ja das Spannende. Ich lerne eigentlich am meisten von den Fragen, die nicht ich, sondern jemand anderes gestellt hat. Das finde ich unglaublich inspirierend und faszinierend, und deswegen lese ich auch gerne Twitter. Die Power von Social Media, ob das jetzt das Intranet oder Yammer Enterprise Social Network ist: einer fragt, alle lernen. Das gilt für LinkedIn, das gilt für Twitter, das ist unglaublich faszinierend. Und es ist so viel besser als dass wir beide nur miteinander sprechen. Ich habe eine Frage, du hast die Lösung, und alle anderen kriegen davon noch nicht mal etwas mit.
Die sehen im Zweifel nur das Ergebnis, nicht die Frage und schon gar nicht den Weg zur Lösung.
Das ist das Schöne am offenen Fragenstellen. Deswegen mag ich das so gerne. Zum einen, dass jemand diese Frage gestellt hat, ist für mich oft schon ein Lernprozess, weil ich vielleicht über die Frage noch gar nicht nachgedacht hatte. Zum anderen ist es schön, den Menschen beim Denken zuschauen zu können, wie sich dann aufgrund dieser Antworten etwas entwickelt. Das ist unfassbar spannend. Das ist etwas ganz anderes, gerade, wenn wir jetzt wieder über Leadership sprechen, als wenn ich mir in meinem stillen Kämmerlein das Expert.innenwissen hole, zu meiner Mannschaft rausgehe und sage: „So machen wir das!“ Dann hat keine/r was gelernt, außer vielleicht mir, bzw. das, was die Leute gelernt haben, ist, ich muss nicht mitdenken, denn die Lösung kommt aus dem stillen Kämmerlein. In dem Moment, wo ich diese Denkprozesse und diese Fragenprozesse öffne, gebe ich ja auch wieder einen Teil Verantwortung dorthin, wo sie am besten aufgehoben ist. Nämlich dieses „Ich weiß nicht, wie wir das lösen können. Wahrscheinlich hast du das Problem besser verstanden als ich, deswegen solltest du loslaufen und gucken, was du an Input, wie wir das Problem lösen können, bekommen kannst. Und nicht ich, mit einer/m Expert.in reden und dir dann sagen, wie du das machen kannst.“
Das ist auch das „Demokratisieren von Lernen“ und damit aber auch gleichzeitig von Verantwortung.
Was du gerade beschreibst, ist dieses Empowerment- und Trust-Thema, über das wir immer alle sprechen. Auf welcher Ebene müssen Entscheidungen getroffen werden? Die Expert.innen wissen ja normalerweise besser, was die richtige Entscheidung ist, als die-/derjenige, die/der sie trifft. Üblicherweise.
«Meine Leadership-Aufgabe ist, dir dabei zu helfen, die richtigen Fragen zu stellen, die Türen zu öffnen, dich mit anderen Expert.innen zu vernetzen, dir mein Netzwerk zur Verfügung zu stellen.»
Und jetzt ist die Frage, was heißt es, wenn ich Leute empowere, wenn ich vertraue? Dann heißt das für mich, nicht nur zu sagen, du darfst die Entscheidung treffen, denn Empowerment ist für mich nicht nur die Absence von Leadership, also was ist meine Leadership-Aufgabe? Meine Leadership-Aufgabe ist, dir dabei zu helfen, die richtigen Fragen zu stellen, die Türen zu öffnen, dich mit anderen Expert.innen zu vernetzen, dir mein Netzwerk zur Verfügung zu stellen. Aber nicht in der Art und Weise, dass ich selbst frage, sondern dass ich dir die Türen öffne, sodass du fragen kannst.
Ich glaube, dass das sehr stark die Rolle von Leadership verändert, im Rahmen von „Wie kann ich als Führungskraft Communities unterstützen?“. Indem ich die Türen öffne, indem ich Raum schaffe, indem ich ermutige, dass die Leute das machen. Das hast du wundervoll beschrieben!
Mit deiner Erfahrung aus den letzten Monaten, was wünscht du dir für das, was alles noch so kommen wird?
Ich wünsche mir, dass wir ein Mittel gegen Corona finden. Das ist wichtig, das ist der größte Wunsch, aber ich vermute, deine Frage geht noch woanders hin.
Beides ist gut.
«Ich wünsche mir, dass wir nicht zu schnell Antworten finden, sondern, dass wir weiter fragen, dass wir weiter lernen.»
Ich wünsche mir, dass wir nicht zu schnell Festlegungen treffen. Wir hatten da in den letzten Tagen in so einer Peer-Community, Corona Ugly Bar, eine Diskussion zu, ob wir uns eigentlich auf das neue Normal festlegen müssen. In den News siehst du, dass einige Unternehmen sagen, dass ab sofort alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis 2021 im Homeoffice bleiben. Oder Homeoffice für immer. Ich wünsche mir, dass wir das ermöglichen. Ich wünsche mir aber vor allem, diese Freiheit, es auszuprobieren und uns eben nicht festlegen zu müssen. Und weiterzulernen. Nicht zu sagen „Ja, haben wir jetzt gelernt, jetzt machen wir es so.“, sondern gerade dieses „Was will ich wirklich wirklich?“, was ja eine Frage ist, die häufig im Bereich New work gestellt wird, immer wieder zu stellen. Immer wieder neu. Und dann nicht diese Festlegung zu haben, dass ich überwiegend aus dem Homeoffice oder überwiegend aus dem Büro arbeite. Ich wünsche mir, dass wir nicht zu schnell Antworten finden, sondern, dass wir weiter fragen, dass wir weiter lernen.
Was wünscht du dir von den Menschen, die in den meisten Organisationen formal Verantwortung für andere Menschen tragen? Was glaubst du, können die tun, damit das passieren kann?
«Lasst uns doch einfach akzeptieren, dass Menschen motiviert sind, entweder intrinsisch oder auch extrinsisch, einen Wert zu schaffen und dafür entlohnt zu werden.»
Stellt bitte die Frage „Was willst du und was brauchst du?“, und dann hört zu. Und zwar nicht, um zu antworten, sondern um zu lernen und zu verstehen. Das wünsche ich mir von jeder Führungskraft und auch von mir selbst, dass ich das noch häufiger mache. Einfach zuzuhören und zu verstehen. Es gibt Menschen, die eine unglaublich große Passion haben, und sie brauchen einfach nur den Rahmen, um das zu ermöglichen. Deshalb müssen wir verstehen, was sie wollen, was sie brauchen. Es gibt auch Menschen, die ihre Arbeit machen, sie auch gut machen, aber deren Passion liegt woanders. Auch das ist gut. Aber auch die brauchen diese Frage.
Lasst uns doch einfach akzeptieren, dass Menschen motiviert sind, entweder intrinsisch oder auch extrinsisch, einen Wert zu schaffen und dafür entlohnt zu werden. Und lasst uns einfach nur den Rahmen schaffen, dass sie das auch tun und sich entwickeln können. Ich glaube, das ist jetzt gerade auch, wenn wir nach vorne, in Richtung digitale Transformation sehen, wichtig. Die Welt verändert sich natürlich und digitale Geschäftsmodelle verändern sich. Irgendwer hat mal gesagt: „Corona is digital transformation on speed.“ Da entwickelt sich wahnsinnig viel, was es früher gar nicht in der Form gab. Das heißt natürlich, dass ganz viele Menschen auch viel lernen und sich weiterentwickeln müssen und dass es Zeit braucht, zu denken, zu lernen, zu lesen. Das sollte auch Arbeitszeit sein. Das ist natürlich intrinsisch motiviert auch Nicht-Arbeitszeit, aber ich muss den Raum schaffen und die richtigen Diskussionen für diese Veränderung führen.
Das ist schon fast ein so wunderschönes Schlusswort, dass ich gerade überlege, es so stehen zu lassen, aber ich hätte noch eine Frage, nämlich was wir nicht besprochen haben, dir aber trotzdem noch wichtig ist?
Was brauchen wir, um gesund zu bleiben? Gesundzubleiben in dieser Situation, auf der Arbeit, in der Familie. Wie kann ich mir Räume schaffen, wie kann ich mir Communities oder Menschen schaffen, wie organisiere ich mich?
Ich wünsche uns allen, dass wir Wege finden, im wahrsten Sinne des Wortes, aus all den verschiedenen Perspektiven, gesund zu bleiben. Ich glaube, dass das ganz viel Zusammenarbeit, Innovation, Veränderung fordert. Es fordert aber vor allem, dass wir miteinander im Austausch bleiben, auch in Zeiten, in denen wir uns physisch nicht sehen.
Sehr schön. Danke schön, Sebastian! Ganz, ganz herzlichen Dank für den Einblick in deine Erkenntnisse und den Austausch. Bei mir sind da schon ganz, ganz viele Gedanken, die anfangen, sich zu drehen.
Wer das Gespräch nachhören möchte, kann dies hier tun: https://itsaboutleadership.podigee.io/.
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