Hallo und herzlich Willkommen zu unserer neuen und letzten Folge bzw. unserem letzten Gespräch aus unserem Themenschwerpunkt „Veränderung“. Für heute haben wir uns etwas Leichtes, Kleines, Feines herausgesucht, nämlich das Thema „Gesellschaftliche Veränderung“. Was es braucht, damit sich Gesellschaften in Bewegung setzen, damit sich etwas verändert und welche Dinge dazu beitragen, dass in einer Gesellschaft Veränderung stattfindet. Dazu habe ich mir eine großartige Gesprächspartnerin gesucht: Ellen Wagner. Ellen wird sich gleich selbst vorstellen und damit vermutlich einen sehr, sehr guten Einblick geben, warum sie zum dem Thema ein bisschen was beitragen kann. Sie ist, so wie ich, Coach und aktiv dabei, Veränderungen mit anzustoßen, zum Beispiel als Antirassismus-Expertin. Aber dazu gebe ich am besten direkt an dich ab, Ellen, sodass du sagen kannst, wer du bist und was du machst.
Viele lieben Dank, liebe Jo. Es freut mich, hier zu sein. Ja, ich bin die Ellen Wagner. Ich habe mich jetzt gerade aus New Jersey, von der US-amerikanischen Ostküste, hinzugeschaltet. Da lebe ich in Princeton mit Familie und Kind. Von hier aus versuche ich, Veränderung anzustoßen. Ich nenne mich selbst Diversity, Equity und Inclusion Expertin. Das bedeutet, dass ich mich um Themen rund um Vielfalt kümmere. Equity bedeutet Fairness, wenn es Sinn hat, also übersetzt Gleichberechtigung und Inclusion bedeutet, dass die Menschen sich dazugehörig fühlen können. Es gibt auch den Begriff „Belonging“. Rund um diese Themen arbeite ich zusammen mit Organisationen. Da gebe ich hauptsächlich Workshops, in denen es darum geht, Diskriminierung zu minimieren oder vielleicht im ersten Schritt auch zu erkennen. Themen sind da unconscious bias, oder wenn es ganz speziell sein soll, auch beispielsweise die Themen Anti-Schwarzer-Rassismus oder Themen rund um LGBTQ, um diese Community. Warum sind das die Themen? Weil ich selbst eine schwarze Deutsche bin oder eine Frau of color. People of color sind die Menschen, die selbst Rassismuserfahrungen erleben. Und ich bin eine Frau, die mit einer Frau verheiratet ist. Dafür steht das „L“ in LGBTQ: Lesbian. Das heißt, dass ich in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung bin und erlebe da eine einzigartige Perspektive, die wahrscheinlich nicht alle Menschen haben. Das sind so die Themenschwerpunkte, um die meine Arbeit kreist und wo ich Organisationen helfe, in die Veränderung zu gehen.
Danke schön. Ich glaube, bei dem, was du gerade beschrieben hast, kann man schon sehr, sehr schön raushören, weswegen du ganz hervorragend zu unserem heutigen Thema passt. Denn das was du in deiner beruflichen Rolle tust, hat viel damit zu tun, Organisationen dabei zu unterstützen, diese Dinge für sich im Unternehmen anzugehen, dort Veränderungen anzustoßen. Gleichzeitig trägst du damit auch dazu bei, dass sich nicht nur in Organisationen und Unternehmen, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene, ganz, ganz viele Dinge bewegen. Wenn ich jetzt alleine an meinen Berufsstart zurückdenke, dann sind viele Themen, die du heute aktiv mit vorantreibst, Themen, die zu diesem Zeitpunkt, glaube ich, in den wenigsten Köpfen vorhanden waren. Das heißt, dass da ja schon sehr, sehr viel passiert ist. Und vielleicht ist das der Einstieg in diesen ersten großen Themenblock. Nämlich die Frage, was gesellschaftliche Veränderung für dich überhaupt heißt. Und was sind die Dinge, die du siehst und wahrnimmst, die es braucht, um Veränderung in der Gesellschaft voranzutreiben?
Du hast es ja in der Einleitung gesagt: ein ganz leichtes Thema. Beide lachen.
«Wenn es Bewegungen gab, wurden sie durch ein bestimmtes Event in Gang gesetzt.»
Es ist, glaube ich, ein riiiiiesiges Thema, bei dem ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Aber vielleicht beginne ich bei der Motivation, warum ich das überhaupt mache. Ich bin ja Teil der Gesellschaft, und wir haben eine Tochter, die schwarz ist und bereits in ihren jungen Jahren Rassismus erlebt. Das ist ein großes Thema, mit dem ich mich persönlich auseinandersetze und sicherlich ein Thema, das du jetzt gerade angesprochen hast. Dass Deutschland plötzlich sehr, sehr rassismuskritisch geworden ist. Mit „sehr, sehr“ meine ich im Grunde genommen noch gar nicht sooo große Schritte, aber im Vergleich zu vor einigen Jahren, als das Bewusstsein vielleicht noch nicht da war. Warum ist das so? Warum gibt es jetzt eine große Nachfrage nach Workshops, Aufklärung, Weiterbildung rund um diese Themen? Weil sich tatsächlich etwas in der Gesellschaft getan hat. Wenn du mich jetzt fragst, was es für eine gesellschaftliche Veränderung braucht, blicken wir doch mal zurück auf das, was letztes Jahr im Sommer passiert ist. Da gab es hier in den USA einen großen Vorfall. George Floyd wurde ermordet und auch Breonna Taylor. Was dann geschah, waren große Proteste, die Black lives matter-Proteste und Demonstrationen, nicht nur hier in den USA, sondern weltweit. Deutschland war da ganz vorne weg und hat unglaublich viele Menschen zum Protest mobilisieren können. Das hat ganz viel in Gang gesetzt. Wenn wir uns in der Geschichte mal umschauen: Wenn es Bewegungen gab, wurden sie durch ein bestimmtes Event in Gang gesetzt. Wenn ich an das Civil Rights Movement denke, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, erinnere ich mich an ein Geschehnis mit Rosa Parks. Der Name ist dir vielleicht auch ein Begriff. Das war eine Aktivistin, die in Montgomery, Alabama, damals in einem Bus nicht aufgestanden ist. Es gab Segregation, also die sogenannte Rassentrennung, wobei Rassen ein Konstrukt sind. Im Englischen sagt man „Race“, was „Menschengruppen“ bedeutet. Zur Zeit von Rosa Parks wurden die schwarzen und weißen Menschengruppen getrennt in den Bussen befördert, und sie hat sich widersetzt, sich auf einen Platz für weiße Menschen gesetzt und gesagt: „Ich stehe jetzt nicht auf.“ Sie wurde verhaftet, und vier Tage später brach ein großer Protest aus, der Montgomery Bus Boycott. Er dauerte ein Jahr an. Ein Jahr haben schwarze Menschen in Montgomery, Alabama, protestiert, sind nicht Bus gefahren und haben den Staat so unter Druck gesetzt, dass der Supreme Court letztlich die Rassentrennung in Bussen aufgehoben hat. Das war ein kleiner Schritt in der Bürgerrechtsbewegung, der unglaublich viel ausgelöst hat. Und es gab viele von diesen kleinen Schritten. Was für mich charakteristisch ist, ist immer ein Event, das in irgendeiner Art und Weise medial ist und auf das Menschen aufmerksam werden. Dann braucht es Initiator:innen, die dieses Event nach vorne bringen, vorantreiben, publik machen. Und dann braucht es natürlich Follower:innen. Menschen, die darauf aufmerksam gemacht werden und sagen, dass das noch nicht angehen kann und dass wir etwas ändern müssen. Die laut werden, die mitprotestieren, die sich engagieren, spenden, ihre eigene Energie einsetzen, um etwas in Bewegung zu bringen. Das ist ein Muster, das ich im Grund genommen, weltweit verfolgen kann.
Das ist auch aus meiner Beobachtung heraus etwas, das ich teilen würde. Dass es immer diese Events gibt oder Elemente, die plötzlich sehr, sehr sichtbar sind und die es vorher nicht waren. Die etwas in Bewegung setzen. Und gleichzeitig sind wahrscheinlich vorher schon Strömungen da, die dazu führen, dass dieses Event anschlussfähig ist. Dass Leute darauf aufspringen bzw. die breite Masse ihre Aufmerksamkeit darauf richtet. So ist es eine Kombination aus den Strömungen, die schon in kleinen Nuancen vorher da sind und dann quasi durch ein Event sichtbar werden können. So sichtbar, dass diejenigen, die dieser Strömung anhängen oder sie unterstützen, natürlich auch schnell sehen, dass sie mit ihrer Unterstützung dieser Idee oder Initiative nicht alleine sind. Das heißt, dass der gesellschaftliche Wandel wahrscheinlich in kleinen Elementen schon vorher stattfindet, aber eben nicht so sichtbar. Durch die Sichtbarkeit kommt dieser Schub rein und vor allem das Element, dass vielleicht auch eine breitere Masse sich dem zugehörig fühlen kann. Weil sie sieht, dass andere ebenso empfinden. Dass sie damit nicht alleine sind. Aber letztendlich gehört vermutlich eine extra Portion Zufall dazu, damit dieses Element zu dem Zeitpunkt kommt, an dem es verfangen kann.
Vor Rosa Parks gab es eine andere schwarze Frau, wie heißt sie noch?
Claudette Colvin.
Genau. Auch sie hatte sich geweigert, ihren Platz zu räumen, aber das hatte nicht die gleiche Welle zur Folge gehabt. Weil es vielleicht vom Zufall her nicht zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort mit der richtigen Sichtbarkeit geschah und dadurch nicht so greifen konnte, wie es später die Handlungen von Rosa Parks taten.
«Wenn es gefilmt wird und man genau sehen kann, was dort gerade an Ungerechtigkeit geschieht, fühlen sich die Menschen betroffen.»
Im Fall von Claudette Colvin, die neun Monate zuvor auch nicht aufgestanden war, gab es aber relativ handfeste Gründe, warum es da nicht zu der großen Bewegung kam. Denn die damalige NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), eine Initiative, die wirklich strategisch aufgestellt ist, hatten das Ganze rund um Rosa Parks geplant. Sie hatten das mit Claudette Colvin mitbekommen und planten auch, es mit ihr groß zu machen, allerdings wurde sie kurz darauf schwanger. Sie war 15 Jahre alt und dark skinned, hatte also eine sehr dunkle Hautfarbe, und all das waren Gründe, sodass sie entschieden haben, dass sie nicht das Gesicht der Kampagne werden kann. Ich glaube, dass das häufig so ist. Das sind Dinge, die wir gar nicht mitkriegen, und nachher gibt es eine Rosa Parks, und das Ganze wird gepusht. Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch Momente wie letztes Jahr. Es war sicherlich nicht geplant, dass ein schwarzer Mann ermordet wird. Doch der Zufall war, dass diese Tat gefilmt wurde. Das war der entscheidende Moment. Was neben der Strategie einer NAACP oder der Black Lives Matter-Bewegung, die es seit 2013 gibt, weil es natürlich auch weiter Morde an schwarzen Frauen und Männern gegeben hat, mit ins Spiel kommt, ist die Betroffenheit der Menschen. Wenn es gefilmt wird und man genau sehen kann, was dort gerade an Ungerechtigkeit geschieht, fühlen sich die Menschen, glaube ich, sehr betroffen. Das hat sie dazu bewogen, jetzt auch aufzustehen und gegen dieses Unrecht zu protestieren, das es natürlich, vor allem in den USA, schon seit Jahren gibt. Und auch in Deutschland gibt es unglaubliche Polizeigewalt, bei der Menschen zu Tode kommen. Aber das war ein Event, das so krass in seiner Intensität war und auch noch gefilmt wurde, dass das sicherlich ein Auslöser gewesen ist.
Mit Sicherheit. Das gehört zu den Ereignissen, die sich ins kollektive Gedächtnis einprägen. Das ist eines der Dinge, für die es eine gemeinsame Interpretation gibt, was ein Element von gesellschaftlicher Veränderung ist. Die Interpretation, dass das nicht sein darf, dass so etwas nicht passieren darf. Und das bleibt in den Köpfen hängen.
Jetzt bist du auch Coach und erlebst die ganze Spannbreite. Du begleitest Menschen in individuellen Veränderungsprozessen, bist in Unternehmen und unterstützt dort auch das Anstoßen von Veränderungen. Gleichzeitig bist du selbst durch deine Rolle Teil dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse. Wo siehst du Parallelen, aber auch Unterschiede, wenn es um das Individuum und seine individuelle Veränderung geht und um die Gesellschaft?
«Ich beginne bei den Individuen.»
Letzten Endes sind wir als Individuen alle Teil der Gesellschaft. Wenn ich das auf den Unternehmenskontext übertrage, geht es da natürlich um Abteilungen oder meinetwegen, je nach Größe, um das ganze Unternehmen, wo Veränderung angestoßen wird. Ich beginne immer am gleichen Ansatzpunkt. Ich beginne bei den Individuen. Wenn ich eine Einführung gebe, zum Beispiel zu dem allgemeinen Thema Unconscious bias und nicht konkret über eine Diskriminierungsform, beispielsweise Rassismus, spreche, sondern recht generell starte, beginne ich immer mit Übungen, die eine Selbstreflexion voraussetzen. Wo Menschen über sich selbst nachdenken müssen. Wo sie eine Art Gefühl dafür bekommen, wie es ist, wenn man selbst in einer Schublade landet und wie sich das anfühlt. Wir Menschen sind unterschiedlich privilegiert. Privilegien ist das Fehlen oder das nicht vorhanden sein von Barrieren. Die Menschen, die in unserer Gesellschaft besonders privilegiert sind, sind weiße Männer in mittlerem Alter, die heterosexuell sind. Das sieht man zum Beispiel in den Unternehmensstrukturen, aber auch in unserer Gesellschaft, denn das sind die Menschen, die die meiste Macht haben und am meisten der sogenannten Norm entsprechen. Ich versuche, auch diese Menschen, die sehr privilegiert sind, einmal fühlen zu lassen, wie es ist, wenn man in einer Schublade steckt, in der man nicht sein möchte. Damit man sich im nächsten Schritt damit auseinandersetzt, wie es überhaupt ist, wenn man diskriminiert und exkludiert wird. Wenn man an dieser Stelle eine eigene Betroffenheit entwickeln kann, kann man vielleicht auch im nächsten Schritt das größere Ganze sehen und die Systeme erkennen. Was ist denn überhaupt Diskriminierung? Strukturelle Diskriminierung, institutionelle Diskriminierung, interpersonale Diskriminierung und die internalisierte Diskriminierung? Da gehen wir vom ganz großen Ganzen, von unserer Gesellschaft, bis zum Individuum. Bis ins Interne der einzelnen Individuen. Um das zu verstehen und dann Schritt für Schritt auf das größere System zu schauen, müssen wir bei uns selbst starten. Wenn ich in Unternehmen agiere, blicke ich erst einmal auf den Organisationskontext, um zu schauen, was die Organisation tun kann, um beispielsweise Talente anzuziehen, die diverse Backgrounds haben. Und das hat dann wieder Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.
Was mich bei dem Thema gesellschaftlicher Wandel so fasziniert, ist ähnlich zur Veränderung eines Individuums. Wenn sie etwas verändern möchten, müssen sie neue Gewohnheiten und Routinen entwickeln, damit bestimmte Dinge das Normale werden, das vorher vielleicht nicht da war. Wenn man als Beispiel den ganz banalen Veränderungsprozess „Ich möchte mehr Sport machen“ nimmt, hat es ganz viel damit zu tun, für sich selbst erst einmal die Entscheidung zu treffen, das tun zu wollen und in einen Flow zu kommen. Und dann braucht es die neuen Routinen. Die es in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen genauso braucht. Dass wir als Gesellschaft andere Routinen entwickeln müssen, damit sich solch eine Veränderung verankern kann. Ich denke jetzt zum Beispiel an diese neuen Routinen, dass sehr oft und viel bereits im Vorfeld einer Veranstaltung darauf hingewiesen wird, wenn ein Podium rein männlich besetzt ist, und Menschen sagen, dass sie nicht anreisen möchten oder nicht Teil dieses Podiums sein wollen, wenn es nicht diverser gestaltet ist. Diese Routinen entwickeln sich langsam mit der Zeit. Das finde ich sehr spannend zu beobachten. Ich weiß nicht, wie es dir dabei geht, aber ich habe das Gefühl, dass sich oft erst im Nachhinein wertschätzen und anerkennen lässt, was sich da schon alles in Bewegung gesetzt hat. Weil man es in dem Moment selbst gar nicht empfindet, als hätte sich schon etwas in Bewegung gesetzt. Wie geht es dir da?
Oh. Rückblickend. Da denke ich jetzt gerade über das Feedback von Unternehmen nach, in denen so etwas angestoßen worden war. Ich sehe immer nur die andere Seite, auf der sehr, sehr viel Widerstand und Unverständnis ist, dass diese Dinge überhaupt angesprochen werden. Ich sehe es auf jeden Fall, was die gesellschaftliche Veränderung nach dem letzten Jahr angeht, dass da viel mehr Routine reingekommen ist. Dass Fragen plötzlich anders gestellt werden.
Welche Routinen können denn bei einer gesellschaftlichen Veränderung helfen bzw. sie unterstützen?
«Das haben wir doch schon immer so gemacht, damit sind wir doch immer gut gefahren.»
Häufig wissen die Leute gar nicht, was sie brauchen, um eine Routine zu entwickeln oder dass es überhaupt wichtig ist, eine Routine zu entwickeln, um ein Ziel zu erreichen. Ich glaube, da braucht es, ähnlich wie bei den Events, die dazu führen, dass eine Veränderung angestoßen wird, auch wieder treibende Kräfte, die eine Vorgabe machen. Ob das einzelne Menschen sind, die eine besonders laute oder starke Stimme haben oder ob das Menschengruppen sind, die laut werden und Veränderung brauchen, wie zum Beispiel Frauen, die sagen, dass sie nicht zu einem Panel gehen, bei dem zu viele Männer und zu wenige Frauen eingeladen sind. Das ist ein Echo, das man immer wieder und häufiger hört. Ähnlich wäre das in meinem Fall, als schwarze Person. Wenn ich irgendwo eingeladen werde, frage ich, ob es noch weitere Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Backgrounds gibt oder wie überhaupt die Diversität eines Panels aufgestellt ist. Da glaube ich, braucht es immer wieder den Hinweis oder Anstupser, der einen darauf hinweist. Ein stetiges darauf hingewiesen Werden. Das ist sicherlich auch sehr schmerzlich, denn alle Routinen brauchen Durchhaltevermögen und vielleicht auch eine Anleitung, wie man es tun kann. Es gibt Themen, die sind unglaublich schwer zugänglich. Wenn wir an gendergerechte Sprache denken oder an andere Dinge, bei denen sich Menschen plötzlich komplett umgewöhnen müssen. „Das haben wir doch schon immer so gemacht, damit sind wir doch immer gut gefahren“. Da die Kurve zu bekommen, dass es den Menschen aber gut tun würde, weil viele von ihnen sich dann inkludiert fühlen würden, ist sehr, sehr schwierig für die Menschen. Gerade, wenn sie sehr privilegiert sind und Angst haben, ihre Privilegien abgeben zu müssen und viel dafür tun zu müssen. An dieser Stelle ist es gut, Routinen, Standards und vielleicht sogar Regeln vorzugeben, wo man auch von oben – sprich in Unternehmen, Institutionen oder Staatsorganen – vorgibt, dass es ab jetzt so und so gemacht wird. Dann werden die Leute da so ein bisschen reingepusht.
«Es gibt immer drei verschiedene Gruppen von Menschen.»
Denn es gibt immer drei verschiedene Gruppen von Menschen. Die, denen ein moralischer Appell absolut ausreicht. Da heißt es: Hey, gendergerechte Sprache ist wichtig, und dann üben sie von sich aus, weil sie denken, dass das Sinn hat. Dann gibt es eine große Gruppe von Menschen, die sagen, dass sie weder dafür noch dagegen sind. Ein achselzuckendes „Ist mir doch egal“. Da muss man ein bisschen mit einem carrot stick locken und sagen: Hey, wenn du das machst, hast du einen Benefit, da springt für dich persönlich etwas bei raus. Da hilft es, Routinen zu etablieren, bei denen die Leute auf irgendeine Art und Weise belohnt werden. Ob das im Mitarbeitendengespräch ist, wo sie ein Pünktchen kriegen oder im gesellschaftlichen Zusammenhang. Hauptsache, in irgendeiner Art gibt es Anerkennung, Belohnung. Und dann gibt es eine kleine Gruppe Menschen, die brauchen Sanktionen oder Bestrafung, wenn sie sich nicht an die Regeln halten, sonst bewegen die sich nicht. Denn warum sollen sie sich dafür einsetzen, wenn sie eher opportunistisch unterwegs sind und nur auf sich selbst gucken. Insofern glaube ich, dass ein gesundes Maß an Routinen, die vorgeben, wie es zu sein hat, hilfreich sind. Die Leute müssen aber auch immer und immer wieder daran erinnert werden, damit es irgendwann tatsächlich zu einem Automatismus kommt.
Das können ja dann ganz unterschiedliche Dinge sein, ne? Das Unternehmen, das sich die 50/50-Verteilung der Geschlechter in den Führungsfunktionen als Rahmen setzt bis hin zu Nachrichtensendungen, die sich selbst die Regel setzen, gendergerechte Sprache zu nutzen. Da gibt es unterschiedliche Ansätze, die auf unterschiedlichen Ebenen dazu beitragen, dass Routinen entstehen können und dass Menschen, die es sonst vielleicht nicht täten, mit dem Thema in Berührung kommen können.
Da du ja auch besonders beim Thema Diversity, Equity und Inclusion aktiv bist, wo steht aus deiner Einschätzung und Wahrnehmung heraus heute der Veränderungsprozess? Auf einer Skala von 1 bis 10, wenn 10 bedeutet, dass wir in diesen Bereichen alles erreicht haben, was es braucht, damit wir das gar nicht mehr erwähnen müssen.
Sprechen wir jetzt im Kontext Deutschland?
Ja, wahrscheinlich ist das das Einfachere. Aber du kannst gerne auch deine USA-Erfahrungen danebenstellen.
«Na, ne 9! Schwule und Lesben dürfen doch jetzt heiraten.»
Lacht. Da würde ich für Deutschland mal eine optimistische -2 nehmen. Oder vielleicht sogar für die Welt.
Nee, Spaß beiseite. Nehmen wir ruhig mal eine 2. Ich glaube, wir stehen bei einer 2. Und jetzt fragst du natürlich mich, und ich nenne dir eine 2. Wenn du andere Menschen fragen würdest, würden die sagen: „Na, ne 9! Schwule und Lesben dürfen doch jetzt heiraten. Was willst du überhaupt? Und unsere Klassenzimmer sind auch nicht mehr segregiert. Da sitzen Kinder aller Couleur.“ Aber wenn du mich fragst, haben wir noch unglaublich, wahnsinnig viel zu tun, was das angeht. Deutschland ist jetzt gerade im letzten Jahr unheimlich rassismuskritisch geworden. Wenn wir einen Blick auf die Frankfurter Buchmesse werfen, sehen wir unglaublich viele Autor:innen, die vielleicht nicht alle selbst gekommen sind, aber es gibt eine Vielzahl von Stimmen, die man vor einigen Jahren so noch gar nicht visibel hatte. Also die einfach nicht da waren und denen jetzt zugehört wird. Denen jetzt auch der Raum gegeben wird, ihre Stimme zu erheben. Wenn ich mir allerdings anschaue, und es gibt ja unterschiedlichste Diskriminierungsformen wie Ableismus, die Diskriminierung gegen Menschen mit Behinderung, Ageism, die Altersdiskriminierung usw., haben wir noch einen ganz, ganz weiten Weg vor uns. Warum sage ich das? Ich arbeite mit Organisationen zusammen. Und ich arbeite häufig mit Organisationen zusammen, die in irgendeiner Art einen internationalen Bezug haben. Die zum Beispiel mit den USA zusammenarbeiten oder in den USA eigene Standorte haben. Die USA, im Vergleich zu Deutschland, ist, was diese Themen oder deren Bearbeitung angeht, schon einen Schritt weiter. Da gibt es ganz andere Diskussionen. Das heißt, dass es letztes Jahr in den USA solche Diskussionen gab wie „Unser Präsident ist rassistisch, das und das und das“. In Deutschland war die Diskussion: „Ja, Ellen, sag mal, ist das mit dem Rassismus denn wirklich so schlimm?“ Da wird tatsächlich noch die Frage gestellt, ob das überhaupt rassistisch ist.
«Fakt ist, wir werden alle rassistisch sozialisiert.»
Ich kann doch nicht rassistisch sein. Fakt ist, wir werden alle rassistisch sozialisiert, und wir kommen aufgrund der Bilder, die um uns herum sind, gar nicht darum herum. Wenn ich den Vergleich mache, hat sich wirklich, was den Rassismus angeht, in Deutschland letztes Jahr unglaublich viel getan. Das heißt, dass sich das Ganze da vielleicht um 0,2 Punkte verändert hat. Aber wenn ich hinhöre, wie es den Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, geht und das ist sicherlich nur ein kleiner Querschnitt, denn so viele Menschen kenne ich nicht, aber der Tenor ist immer der Gleiche: Dass es unglaublich schmerzhaft ist, arbeiten zu gehen oder sich durch die Gesellschaft zu bewegen, weil so viel Ausschluss passiert. Und deswegen ist meine Meinung, dass die Zahl auf einer Skala von 1 bis 10 erst bei 2 ist.
Also tatsächlich noch viel Weg vor uns, aber gleichzeitig auch viel Potenzial, Dinge besserzumachen als sie heute sind. Was würdest du dir von den Menschen wünschen, die nicht von diesen Diskriminierungen betroffen sind, also von Menschen, die Privilegien haben?
«Wenn so viele Perspektiven fehlen, fehlt auch unglaublich viel Wissen über andere Menschengruppen.»
Da kann ich auch bei mir selbst anfangen. Ich bin ja selbst sehr privilegiert. Ich komme aus der Mittelschicht, aus einem Akademikerhaushalt, mein Vater hat studiert, mein Bruder hat studiert, ich habe studiert. Ich habe auch unglaubliche Privilegien, die ich auch nutze. Und das wäre auch mein Appell. Von außen sieht man ja nicht immer, wo eine Personen steht, das heißt, dass die Diversity-Dimensionen nicht sichtbar sind. Aber ich wünsche mir, dass jede Person, die privilegiert ist und Energie hat, selbst reflektiert, wo sie oder er steht, wenn sie oder er sich die Gesellschaft anschaut. Bin ich da eher in der Norm oder nicht. Und je mehr ich der Norm entspreche, desto mehr Privilegien habe ich. Dann würde ich erwarten, dass diese Privilegien genutzt werden. Wenn ich Zugang zu Bildung habe, sollte ich diese Bildung nutzen, um andere Menschen zu empowern. Das ist auch ein großer Bestandteil meiner Arbeit. Ich empowere Menschen. Ob das weiße Menschen sind, die sich nach einem Antirassismus-Workshop trauen, den Mund aufzumachen und sich einzusetzen, Position zu beziehen. Oder ob das marginalisierte Menschengruppen sind, die selbst unter Diskriminierung leiden und sich dann trauen, zu sich selbst zu stehen und den Mund aufzumachen. Da würde ich erwarten, dass ihr andere Menschen empowert und unterstützt. Es gibt ganz vielfältige Möglichkeiten, dies zu tun. Man kann das im stillen Kämmerlein machen, indem man diverse Literatur, Filme etc. konsumiert, um überhaupt diese Perspektiven zu erfahren. Ich weiß nicht, ob du die Übung „The trusted ten“ kennst. Da schreibt man die zehn Menschen auf, denen man am meisten vertraut, nur keine Familienangehörigen. Was für ein Geschlecht haben diese Menschen? Welcher sozialen Schicht gehören sie an? Welchen höchsten Bildungsabschluss haben sie? Welche ethnische Zugehörigkeit haben sie, sind sie weiß, sind sie schwarz? Welche sexuelle Orientierung haben sie? usw. Wenn man das mal aufschreibt und darüber nachdenkt, denkt man wahrscheinlich, dass das vermutlich nicht so wahnsinnig divers ist, aber wenn man es wirklich mal aufgeschrieben hat, wird einem bewusst, wie nicht-divers das Umfeld ist und wie viele Perspektiven einem fehlen. Und wenn so viele Perspektiven fehlen, fehlt auch in der Regel unglaublich viel Wissen über diese anderen Menschengruppen. Und dann weiß man auch nicht, wie man diesen Menschengruppen mit der eigenen Ignoranz schadet. Deswegen ist mein Appell, sich weiterzubilden. Das kann man auf unterschiedlichste Weise machen. Wie ich gesagt habe, über Filme und Bücher oder Panels besuchen, Workshops besuchen, um diese Perspektiven zu hören und vielleicht auch gleich mitzuschreiben, was diese verschiedenen Menschengruppen fordern.
«Ja, wir sind verschieden, wir sollten allerdings alle gleich behandelt werden.»
Das kann wirklich ganz unterschiedlich sein. Das können Aktionen sein, die man im organisatorischen Kontext machen kann, das kann aber auch im Familiensystem sein, dass man mit den eigenen Kindern zum Beispiel über Rassismus spricht und Kinder aufklärt. Ja, wir sind verschieden, wir sollten allerdings alle gleich behandelt werden. Und nicht sagen, dass es keine Farben gibt und wir alle gleich sind. Nein, wir sind nicht alle gleich. Wir haben nicht alle die gleichen Chancen in diesem Land. Und was kann ich persönlich tun, damit es anderen Menschen besser geht, damit ich andere Menschen nicht ausschließe? Meine Rolle als Coach ist es, in diesen Situationen, ob es Individuen oder Organisationen sind, herauszufinden, was beispielsweise die Organisation mit den Mitteln, die sie hat, tun kann, um dort hinzukommen. Um die Privilegien zu nutzen, um den gesellschaftlichen Wandel voranzubringen.
Das heißt, dass gesellschaftlicher Wandel mit dem Individuum zu tun hat und vor allem viel mit den Individuen zu tun hat, die vielleicht nicht offensichtlich von dem gesellschaftlichen Wandel „profitieren“. Sondern die dazu beitragen, weil sie die Möglichkeiten dazu haben und eine Verpflichtung da sein kann, genau das auch zu tun. Ich glaube, diese Übung mit den Trusted ten werde ich gleich mal machen.
Ich habe ja vorher vom „kleinen, leichten Thema“ gesprochen, und nein, es ist überhaupt kein kleines, leichtes Thema. Es ist ein großes Thema und gleichzeitig der rote Faden unserer menschlichen Entwicklung, der uns immer wieder begleitet. Dass diese Veränderungen stattfinden können und müssen. Und dass vielleicht auch vieles davon, immer damit zu tun hat, dass diese Ungleichbehandlungen weniger werden können und ganz viel Motor an gesellschaftlichem Wandel auch genau darin steckt.
Wenn du versuchst, für unsere Hörer:innen zusammenzufassen, welche Erkenntnisse sie aus unserem Gespräch mitnehmen können, welche wären das?
Was es so für gesellschaftlichen Wandel braucht? Da würde ich erst einmal Aufmerksamkeit für das Thema sagen. Man muss halt wissen, dass es irgendwo brennt und dass es irgendwo etwas gibt, woran man arbeiten muss. Das muss man erst einmal sehen, und unter Umständen muss man darauf hingewiesen werden. Entweder macht das die Gesellschaft oder im Kleinen eine Person oder ein Event oder ein Ereignis, an dem man teilnimmt. Und dann muss es irgendwie Treiber geben, die sagen: Hey, schau noch mal genau hin, oder sieh mal her! Es muss Menschen geben, die darüber sprechen, die darauf aufmerksam machen. In dem Kontext, in dem ich mich bewege, sind es häufig Menschen, die marginalisiert sind. Leider. Die dann noch mal die doppelte Bürde tragen. Sie sind betroffen und müssen auch noch darauf aufmerksam machen. Es muss auf alle Fälle treibende Kräfte geben, das können aber auch Alliierte sein. Das können unterstützende Menschen sein, die wissen, dass sie an der richtigen Stelle andere Menschen darauf aufmerksam machen. Und dann muss es Follower:innen geben. Es muss Menschen geben, die den Willen haben, diese Veränderungen zu tragen und sich einsetzen. Das kostet tatsächlich Ressourcen. Es kostet Geld, das kostet Energie, das kostet Zeit. Man muss etwas dafür einsetzen. Es ist aber vielleicht gar nicht so viel, wie man im ersten Moment denkt. Weswegen viele Menschen davor zurückschrecken und „Dann doch lieber nicht“ sagen. Also man muss sich einsetzen, das ist eine aktive Aufgabe.
«Man muss dranbleiben.»
Ich glaube, der letzte Punkt, den ich noch hinzufügen möchte, ist, dass es eine lebenslange Aufgabe ist. Mit einer einmaligen Spende, einer einmaligen Aktion oder dem Besuch eines Workshops ist es nicht getan. Man muss dranbleiben.
Definitiv. Ich habe gerade an das gedacht, was wir ganz zu Anfang besprochen hatten. Diese Events, die in Teilen zufällig sind, die man vielleicht auch nicht so planen kann und gleichzeitig steckt in dem, was du gerade gesagt hast, so viel drin von „Wir müssen nicht auf die Events warten“. Wir privilegierten Menschen, die diesen Wandel nicht brauchen bzw. nicht gemeint sind mit den meisten Diskriminierungen und da würde ich mich definitiv dazuzählen, können ganz viel dazu beitragen, dass es eben nicht den nächsten Schub für die Black lives matter-Bewegung unbedingt braucht. Weil wir viel schon so mit unseren Privilegien dazu beitragen, dass sich der gesellschaftliche Wandel immer weiter fortentwickeln kann. Wir brauchen nicht auf die Events warten, sondern können auch so ganz viel tun. Das ist mein Gedanken dazu.
Ja, unbedingt.
Liebe Ellen, ich danke dir ganz herzlich für dieses Gespräch. Ich spreche immer sehr, sehr gerne mit dir, zu ganz vielen Themen und zu diesem hier besonders gerne. Herzlichen Dank, dass du diese „leichte Kost“ mit mir heute hier durchgesprochen hast. Ich freue mich, dass wir dadurch den einen oder anderen Impuls weitergeben konnten, wenn es darum geht, gesellschaftlichen Wandel im Allgemeinen und Diversitäts- und Antidiskriminierungsbestrebungen im Besonderen weiter aktiv voranzutreiben.
Ich danke dir für die Einladung.
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